Der König Von Korsika
die von unbekannten Ereignissen herrührte, Besuchen,
Abreisen, Aufführungen, Festivitäten, welche sämtliche Niveaus, deren Verbindungen, die Kreise und die Flimmerfelder in zusätzliche, unberechenbare Bewegung versetzten und durcheinandergeraten ließen.
Und alledem floß noch eine vierte Dimension zu, die die Lösung der Gleichung, die Theodor aufgegeben war, vollends unmöglich machte: Die Zeit, die Dauer, das Wissen um Tradition und Langlebigkeit, das jede Bewegung, Geste und Handlung nach hinten zu einem unendlichen Raum hin öffnete, und alles als die Konsequenz weit herkommender, gewachsener Entwicklungen und Prozesse erkennen ließ.
Und all das, all dieser pulsierende Wirrwarr berührte noch gar nicht das Innerste, das Unsichtbar-Numinose, das schlagende Herz im Zentrum, die Sonne, die diesen Kosmos am Leben hielt, den Kreis des alt und bigott gewordenen und an all den Lustbarkeiten und Tollheiten seiner Welt kaum mehr partizipierenden Königs, seiner allerchristlichsten Majestät Ludwigs des Vierzehnten.
Dabei hatte der erste Anblick Theodor noch beglückt: Eine Zentralperspektive mit dem Fluchtpunkt des weiß leuchtenden, rasch sich vergrößernden Schlosses, während Sand und Kies von den Pferden aufgewirbelt wurden und den Ausblick auf das Camelot der Neuzeit mit avalonschen Nebeln verschleierten. Er hatte kein Auge für die Umgebung, starrte nur voraus, und da lag es, hinter der majestätischen schwarzen grille d’honneur , ockergolden, immens, überwältigend in seiner Schönheit.
Aber das dauerte nur kurz. Das Schloß entpuppte sich rasch als dreidimensionales Labyrinth mit einem jedes Raumgefühl verhöhnenden Treppengewirr, ein steinerner Moloch, der den Umherirrenden fraß und verdaute. Unaufhörlich tauchten neue Gesichter auf. Es war ein Kommen und Gehen, Türen-Aufstoßen, Zimmerfluchten-Durchhasten, in Sälen Verschwinden von Körpern und Gesichtern,
und sobald ein Kabinett sich öffnete, befreite sich der gefangene Gestank nach Urin und Kot und mischte sich mit dem talgigen Geruch nach altem Schweiß, der unter den Perücken weste, daß man zurückprallte.
Unmöglich, in einem Gesicht zu lesen, ein Wort zu verstehen, war man der Codes, der Zeichensprache nicht mächtig, in der hier kommuniziert wurde.
Der erste Impuls, irgendeinen Auslöser zu entdecken, von dem aus all diese Bewegung einen Sinn bekäme, stellte sich rasch als illusorisch heraus. Dergleichen gab es nicht. Dennoch brach nicht alles zusammen, stand der Komplex auch am nächsten Morgen noch, rumpelten die Wagenkolonnen der Lieferanten herein, beschleunigte sich das nächtlich ein wenig verlangsamte und mit kleinerer Besetzung fortgeführte Ballett von neuem.
Vielleicht, dachte Theodor auf seinen ersten Botengängen, war das ganze undurchsichtige Getriebe dieser Arche ja nichts anderes als die Summe solcher Wege wie der seinen, gespickt mit unerwarteten Zusammenstößen, vom Kurs gebracht durch Abschweifungen, Irrgänge und Aufenthalte, tausendfach potenziert, sinnvoll und zielgerichtet im einzelnen, aber sich in seiner Gesamtheit zu einem gigantischen, wahnsinnigen Gewusel ballend.
Es schien die ersten Tage, in denen er bis in die Gesichtsmuskeln wie gelähmt war von der schieren Größe des Schloßkomplexes und dem Wald ineinander übergehender, einander gleichender Gesichter, vollkommen hoffnungslos, jemals so etwas wie Orientierung und Übersicht zu erlangen, und sei es nur im engsten Kreis um ihn herum, was doch, das spürte Theodor, überlebensnotwendig war, wollte er nicht unter die Räder kommen.
Seine Herrin, Madame , die Palatine wurde sie überall genannt, sah er zum ersten Mal am zweiten Tag nach seiner Ankunft. Eine massige alte Dame in grünem Brokat, die ihn in ihrer blühenden Runzligkeit an einen Obstbaum erinnerte.
Ihr breites Gesicht saß auf einem zum Fettkranz geschwollenen, den Hals verbergenden Doppelkinn, das die Bewegungen des Kopfes nicht immer ganz mitmachte. Der Kopf drehte sich weg, der Wulst blieb liegen. Ihr Hühnermund spitzte sich unter einer breiten, hohen Oberlippe, einer großen, leeren Fläche und so bleich, als habe die Herzogin sich soeben erst einen buschigen grauen Walroßschnäuzer abrasiert. Ihre wachen, beständig feuchten Äuglein musterten jedermann mit mißtrauischen (aber wer blickte hier nicht mißtrauisch?), häckselnden Blicken, woraufhin die zerkleinerten Eindrücke hinter der hohen, faltenlosen und schön gewölbten Stirn in die Wursthäute der Erinnerung gestopft
Weitere Kostenlose Bücher