Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der König Von Korsika

Titel: Der König Von Korsika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
Vom Netzwerk:
Öffnung in ihrem Leib, aus der sie regelmäßig ihr Blut vergoß, ohne sterben zu müssen, verlieh ihr in Theodors Augen etwas Märtyrerhaftes, das so gar nicht mit dem Bild seiner ganz diesseitigen und still heiteren Schwester in Einklang zu bringen war. An solchen Tagen wünschte er insgeheim, sie anbeten zu können wie eine Heilige oder befragen wie eine Pythia.
    In der Ernüchterung nach der Hitze des Tanzes war plötzlich der Abschiedsschmerz präsent, der ihn wie eine Sinneslupe alles näher und schärfer empfinden ließ: den ungeheuer lebendigen und dabei so unköniglichen Schweißgeruch, den die erhitzten Achseln seiner Schwester ausstrahlten, die männlichen Adern an ihren Unterarmen und ihre schmutzigen Knabenfinger in seiner manikürten Hand, in deren Teller peinvoll die Erinnerung an die klebrige Nässe der kürzlich erst wieder ans Licht beschworenen De Broglie’schen und Leeuwenhoekschen Spermatozoen juckte, Amélies mondhaftes, fließendes Unwohlsein und die vage Vorstellung von jener Öffnung, jenem Blutquell in ihrem Leib – im Zentrum des Musters blieb ein blinder Fleck, etwas Beängstigendes und zugleich Verheißungsvolles.
    Mit dem nächsten Atemzug trat er für die Dauer eines Herzschlags in eine Trance ein, in der er blind und taub für seine eigenen Gesten und Bewegungen war. Dann spürte er die Hand seiner Schwester auf der Brust, schlug die Augen auf, fand sich dicht vor ihrem Gesicht, sie küßte ihn mit trockenen Lippen auf den Mund und flüsterte: Hoheit, wir sind abgesetzt. Jetzt wollen wir gemeinsam sterben. Sie
legte sich flach auf den Rücken, er folgte gehorsam. Sie lagen da wie die gisants romanischer Basiliken, zwei steinerne Skulpturen mit auf der Brust gefalteten Händen, wortlos, reglos, nur der treue Hund zu ihren Füßen fehlte. Theodor schlug die Augen auf und antwortete verspätet: Ja, das wollen wir.
    In diesem Zustand müde-wunder Empfindsamkeit verblieb Theodor den ganzen restlichen Tag. Er floh vor dem enervierenden Tick-Tack der Standuhr, das ihm den Kopf zu sprengen schien, auf den stillen Dachboden und kaute einen trockenen Brotkanten so ausdauernd, bis er vor lauter süß-sauren, pikant-mürben Geschmackssensationen fast die Beherrschung verlor und ihn ausspucken mußte. Dazu kam noch die Angstlust angesichts der bevorstehenden Abreise. Abends im Bett war er hellwach. Er empfand das Bedürfnis zu beten, oder besser gesagt, mit Gott Zwiesprache zu halten.
    Glaube mir, mein Französisch ist lange nicht so gut, wie ihr alle offenbar meint, ich habe auch keine Ahnung von höfischer Etikette, ich werde mich lächerlich machen, und du weißt, wie löchrig und fadenscheinig meine Kenntnisse sind. Es wird ein Eiertanz werden, du mußt mir helfen, mich da durchzumogeln, mich unsichtbar zu machen oder die anderen mit Blindheit für meine Schwächen zu schlagen.
    Für Amélie war ein Frauenleben vorgesehen, Mortagne würde sie über kurz oder lang verheiraten, die Bestimmung seiner Mutter hatte sich mit dem Flüggewerden ihrer Kinder erfüllt. Ohne es sich eingestehen zu wollen, wußte Theodor, daß es unmöglich war, die Uhr des Lebens hier anzuhalten und es in einen Dornröschenschlaf fallenzulassen, bis er wieder zurückkam und alles erneut zum Leben erweckte, ohne eine einzige Sekunde verpaßt zu haben.
    Sein pochender Herzschlag war in den weicheren Rhythmus des schlafenden Ein- und Ausatmens seiner Schwester
eingebettet, den er durch die offenen Fenster wahrzunehmen glaubte, und wieder, wie schon am Nachmittag, fiel Theodor in eine taub-blinde Trance, in deren Bann er willenlos aufstand, die Tür öffnete, über den Korridor schlich und lautlos in Amélies Kammer glitt.
    Die Sphäre der Stille, die diese Kammer war, weckte Theodor aus seiner Betäubung. Er fühlte sich wie ein Nachttier, eine Katze mit aufgestellten Schnurrhaaren, die sich lautlos bewegt, alles sieht, hört und von der Luft um ihren Körper wie elektrisiert ist.
    Es war eine einfache Kammer, nur ein Bett darin, der Waschtisch mit der marmornen Platte, darauf Wasserkrug und Waschschüssel, eine Wäschetruhe, das Handarbeitskästchen mit dem Intarsienwerk, auf dem das métier lag, der Stickrahmen mit eingespanntem, noch nicht bearbeitetem Leintuch sowie der Klöppelbrief und das Kissen. Alles war von der bläulichsilbrigen Glasur des Mondlichts überzogen, Theodors Augen gewöhnten sich rasch daran.
    Amélies Körper war vollständig zugedeckt, nur der braune Schopf war sichtbar und ihr linker Arm, der

Weitere Kostenlose Bücher