Der König Von Korsika
schlich er aus dem Zimmer und dem Haus.
Er hatte mit vollen Händen Wasser aus dem Krug geschöpft und sich gegen Gesicht und Brust geklatscht. Aus den Steinfliesen, auf denen er mit bloßen Sohlen stand, stieg die Kälte seine Beine hoch und bis in die Ellbogen und Zahnwurzeln. Draußen tschilpten und zirpten die Vögel ohrenbetäubend in den erwachenden Tag. Die Schwalben sichelten durch die diesige Luft. Kurz bevor die Sonne erschien, kochte der schieferfarbene Himmel zu weißem Glast auf, dann wurde der Wind warm, und die Lerchen stiegen, man konnte sie als schwarze, tanzende Flecke im Licht erahnen, und Theodor fühlte sich, als könnte er an diesem Vormittag, immer den Feldweg entlang, mühelos einmal um die Welt laufen, den Kopf beständig zurückgewandt, wo die immer tiefer werdende Landschaft seiner Vergangenheit den Reichtum seiner Existenz beglaubigte.
Und was war dann geschehen? Schon saß er auf dem Kutschbock von Mortagnes Kalesche, durchquerte den Argonnerwald, dessen Buchenstämme wie oxydiertes Kupfer leuchteten, tauchte vom lothringischen Plateau hinab ins sonnenheiße Tal der Marne. Dort hinten zeichneten sich schon die Rauchsäulen der Kirchtürme von Chalons im Lichtdunst ab. Was war geschehen? Er hatte heimlich das enge Korsett angelegt, in dem er schwitzte und das ihm die Reise zur Qual machte, aber in dem er für Mortagnes und aller Welt Augen so schlank und nobel aussah, wie man es von ihm erwartete, er hatte in den Armen seiner Mutter gelegen, die ihn den ganzen Vormittag über angesehen hatte, als lese sie in einem Buch, das sie auswendig kannte. Wie sah sie eigentlich aus? Womöglich hatte er versäumt, ihr Bild so in sich aufzunehmen, daß er es nie vergessen würde? Was hatten sie einander zum Abschied gesagt? Und Amélie? Fort war sie, alles schon fort und wie nie gewesen, und er schwor sich, sobald wie möglich zurückzukommen und auch dieses Leben, das nur unterbrochen war, weiterzuleben, neben dem neuen, zu dem es ihn jetzt hinzog.
Im Gasthaus, wo sie einkehrten und die Pferde gewechselt wurden, starrte eine Magd ihn unverblümt an, ging dann behäbig und breitbeinig in die Scheune und sah sich noch zweimal über die Schulter nach ihm um.
Einmal fuhren sie an löwenzahngelben Wiesen vorüber, Schafe grasten träge, und im Gras lag eine Hirtin im braunen Kleid und hielt einen Halm im Mund. Wie seltsam der Anblick dieses Mädchens ihn berührte, dessen Leben er ebensogut hätte führen können wie sein eigenes. Er hatte das Gefühl, seine Seele könne mühelos aus seinem Körper in den einer dieser Gestalten am Wegesrand fahren, der Angler oder Lastkahnschlepper auf dem Treidelpfad des Flusses.
Mortagnes rumpelnde Kutsche riß ihn fort durch Raum und Zeit, er wußte nicht einmal mehr, ob er sich überhaupt von Mutter und Schwester verabschiedet hatte. Was würde aus ihnen werden, wenn er fort war?
Die Jugend ist vorüber, Baron, rief Mortagne, als sie ihre Zimmer aufsuchten. Morgen abend sind wir in Versailles.
Viertes Kapitel
O niederschmetterndes Déjà-vu! Theodor, den Mortagnes Kutsche, wie er glaubte, allen peinlichen Erinnerungen entrissen hatte, fand sich am Ziel der Reise vor die Aufgabe gestellt, eine mathematische Gleichung zu lösen, die sich ungleich komplizierter darstellte als alles, woran er schon in den Stunden mit Meister De Broglie gescheitert war.
In einer visuell beeindruckenden Imitation der kabbalistischen Welt geometrischer Zeichnungen versuchte Theodor das Schloß horizontal in Ebenen der Wichtigkeit, vertikal in Säulen geographischer Zugehörigkeit zu unterteilen und verband die einzelnen Niveaus mit Diagonalen und Treppen. Aber das reichte bei weitem nicht aus. Das ohnehin schon unverständliche Diagramm mußte noch mit diversen Kreisen kompliziert werden, in deren Mittelpunkt kleine Fixsterne saßen, umkreist von ihren Trabanten. Die Arbeits- und Funktionsbereiche breiteten ein enges Raster über das Gekritzel, das schließlich an der Unmöglichkeit der Wiedergabe einer Art Kräuselung scheiterte: Ganze Flügel, Bewegungen, Uniformen, Gesten und vertane Tage, Umherhuschen und Stimmen, tanzende Körper und hallendes Gelächter, die nichts und niemand zuzuordnen waren, verzerrten die Wahrnehmung, wie wenn der Wind über den See geht und alles Gespiegelte in Licht und Schatten auflöst. Außerdem hätte das wahnwitzige Schaubild noch von unregelmäßigen Parabeln durchwellt gehört, das Ansteigen und Abfallen einer allgemeinen Spannung darstellend,
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