Der König Von Korsika
aus dem Bett hing.
Behutsam machte er einige Schritte, griff den Dreifuß, der vor dem Handarbeitskommödchen stand, stellte ihn neben das Bett und ließ sich lautlos darauf nieder. Streckte er jetzt die Hand aus, konnte er Amélie berühren. Er rückte den Stuhl ein wenig beiseite, aus Angst, sein Atem auf ihrer Haut könnte seine Schwester aufwachen lassen.
Um noch unsichtbarer zu werden, paßte er seine Atmung der der Schlafenden und der Natur an, bis er zu einem Teil des Dekors geworden war, das sich ausdehnte und zusammenzog wie das leise knarrende Holz.
In regelmäßigen Abständen ertönte das reine, gepfiffene C einer Kröte. Er lauschte der Atmung seiner Schwester, die zum fernen Rauschen eines Flusses, zum Säuseln des Windes in Pappeln wurde. Er roch das potpourri mit der
Lavendelkopfnote und die in der Wäsche gefangene Sonnenwärme. Den Flacon auf dem Nachttisch umgab wie ein Hof den Mond ein schwacher Duft nach Rosenwasser.
Töne und Gerüche, die ihn durchflossen, formten sich zu pastosen Bildern, Idyllen seines Lebens, an deren Horizont die Zukunft wetterleuchtete und die auf einen hellen Untergrund gemalt schienen, der sich, indem Theodor genauer hinsah, als der weiße Arm Amélies erwies, auf den seine Augen die ganze Zeit gestarrt hatten.
Der sanft modellierte längliche Bizeps war von einem feinen Aderngeflecht durchzogen, über die leicht angewinkelte Ellenbeuge verliefen zwei zarte Querfalten, und dort saß unter der hellen Haut wie ein dunkelblauer Skarabäus eine Vene, die zunächst wieder unter dem Schneefeld des Unterarms verschwand, um gleich einem unterirdischen Fluß am Gelenk erneut aufzutauchen, sich zu verzweigen und ins Delta der Hand zu münden.
Der Farbwechsel von der bleichen Glätte des Arms zur rötlichen, wulstigen Muschel des Handtellers war schockierend, wie wenn ein Kirchenlied mit einem Fluch endet. Diese halbgeöffnete Hand wirkte obszön gegen den Arm, so fleischig zwischen den Abschnürungen der Handlinien, eine tropische Pflanze, deren unbewegliche Blütenblätter, die Finger, nur darauf zu warten schienen, daß ein Opfer, angelockt von der rotglänzenden, feuchtwarmen Kelchhöhlung, sich in ihr verlor, um sich zu schließen.
Theodor beugte sich instinktiv nach vorn, um die Nase näher an diese Sumpfblume zu führen und die in ihren Poren gespeicherten Gerüche nach Erde, Schweiß, Zwiebeln und Rosenwasser einzuatmen, zügelte dann aber seine Bewegung. Wie ungeschützt dieser weiße Arm dalag, halb hing, als habe er sich schon aufgegeben. Wie vergänglich er war. Und welches Gefühl der Dringlichkeit angesichts dieses dem Tod so schutzlos preisgegebenen Lebens. Dringlichkeit wessen? Theodor wußte es nicht. Es war ein allgemeines,
allumfassendes Gefühl von Dringlichkeit. Eine Nacht, ein Tag, ein Wimpernschlag, und schon würde alles der Verwesung anheimfallen, würde nur noch Erinnerung an ein Leben sein, das verdunstete wie Tau in der Morgensonne.
Theodors Pulsschlag erhöhte sich, sein Atem wurde kürzer. Je länger er vor seiner Schwester saß, desto übermannender wurde sein Begehren, ihren Arm zu streicheln, ihre Hand zu pressen, bis das Blut aus ihr wich und weiße Druckstellen zurückließ, in die von den Rändern her langsam wieder das Blut zurückkehrte. Aber dann bemerkte er, daß er, einen Atemhauch vom Objekt seiner Sehnsucht entfernt, genau diese Spannung, die letzten Zentimeter nicht überbrücken zu können, wollte er den Zustand zehrenden Glücks nicht beenden, intensiv genoß.
Schauer durchrieselten seine Schenkel und Schultern, eine Müdigkeit legte sich auf seinen Nacken und in seine Kniekehlen, und seine Kopfhaut prickelte. Sein Blick wurde schärfer, und er hatte den Eindruck, seine Haut straffer auszufüllen, die sich wie ein Handschuh aus Eidechsenleder um seine Nervenenden schmiegte, und nicht mehr um sie schlotterte wie ein Wollfäustling.
Er sah seine Schwester wie eine makellose, geschlossene Sphäre, und auch sich selbst: geschlossen, makellos, und zwischen ihnen züngelten Blitze wie Elmsfeuer. Wieviel süßer das Geheimnis war, die letzte Unschärfe, als die banale, kalte Logik der Auflösungen. Kein forschendes, sezierendes Skalpell wollte er an diese beiden Sphären setzen, die Spannung wollte er, die ungelöste Spannung, in der die Sehnsucht sich langsam hochspiralte, als spiele ein Orchester das immergleiche Thema, mit jeder Schraubendrehung einen Halbton nach oben versetzt, ohne je zu einem Ende zu kommen.
Gegen Morgen
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