Der König Von Korsika
zu werden schienen.
Die große Frau wußte durchaus, wen sie vor sich hatte, als er sich, im Vorzimmer von einem Lakaien angeleitet, ihr dienernd näherte, was, wie Theodor anhand der aufmerkenden Umstehenden befriedigt bemerkte, offenbar nicht selbstverständlich war. Sie duzte ihn sofort.
Ei, Theodor, sagte sie, nachdem sie sich seine Geschichte angehört hatte, deren Darstellung sie mit erhobenen Händen (kürzer, schneller), offenen Handflächen (sprich dich aus), flatternden Fingern (will ich nicht so genau wissen) dirigiert und in ihr genehme Formen und Proportionen gebracht hatte, ei, Theodor, jetzt gehst du als’ mal da drüben in die Kammer und stellst dich da ans Fenster und guckst, wann die Leute kommen und gehen, die ich hier auf dieser Liste stehen hab, gell. Man wird dir dabei helfen.
Oui, Madame , flötete Theodor, rot vor Stolz, ihre Handzeichen so fehlerlos interpretiert zu haben, als seien sie ein Code, den er schon seit Jahren perfekt beherrsche. So erblickte er gleich zu Anfang, was mancher der Glücklichen, der nicht dort hausen mußte, die »Kloake von Versailles« nannte, das im großen Innenhof verborgene und von außen unsichtbare »Armenviertel« des Schlosses.
Mehrere Reihen lieblos hochgezogener, spitzgiebliger,
mietskasernenartiger Wohnhäuser standen dort, von Hofmauer zu Hofmauer reichend, dicht an dicht, kleine Lichthöfe dazwischen, hölzerne Außentreppen führten in die vier Etagen eines jeden, das dennoch niedriger war als das nur zwei Stockwerke umfassende Schloß. Die Häuser waren durch Arkaden miteinander verbunden, die ebenso im Schatten des Palastes lagen wie die kleinen Fenster der niedrigen Wohnungen.
In dieser Düsternis und in Zimmerchen, die nicht größer waren als Gefängniszellen, hausten, wie Theodor später erfuhr, mehrere tausend Männer und Frauen, die meisten von ihnen Adlige, die zu Hause auf dem Land in hundertmal komfortablerem Rahmen gelebt hatten. Sie waren aus allen Teilen des Landes an den Hof gedrängt, um der Sonne des Königs teilhaftig zu werden, und lebten in schwer vorstellbarer Promiskuität, was auch der Grund war, warum man ihr Kommen und Gehen, von Kammer zu Kammer, von Block zu Block, wie die Palatine es jetzt von Theodor verlangte, von den Fenstern der Beletage ausspionierte.
Er selbst mußte nicht so tief anfangen, sondern genoß auch weiterhin Privilegien, die seiner inneren Überzeugung, ein Auserwählter zu sein, der nur vorübergehend inkognito auftrat, weiter genügend Nahrung zuführten. Er brauchte nicht Arbeit in einem niederen Sinn zu tun, Mortagne, den er in den ersten Monaten nur zweimal zu Gesicht bekam, sorgte nach wie vor für seine schulische und edelmännische Ausbildung, die Stunden vor lateinischen, englischen und italienischen Büchern, die Räume, in denen er studierte, das bleiche, von einem Tic, der das linke Auge und den linken Mundwinkel aufeinanderzuzog, durchzuckte Gesicht seines neuen Lehrers, des Abbé Ducreux, und das altrosa getönte Vorzimmer von Madame wurden seine Zuflucht, seine Fixpunkte im unbegreiflichen Chaos von Versailles.
Im Kabinett der Pfälzerin wurde auch Politik gemacht,
aber so – kam es Theodor vor – wie in jedem zweiten Raum des Schlosses: auf eine hypothetische, kinderspielhafte Weise, als träfe man sich zum Schach und räumte hinterher die Figuren verdrossen und enttäuscht angesichts all der verpufften Geistesanstrengung zurück in ihr Holzkästchen. Es wurde intrigiert, worum, wußte Theodor nicht. Damenzirkel schlossen sich ein, seltsame gepuderte Herren mit krankhaften Rougeflecken auf den Wangen trippelten ein und aus, die Lakaien und Zimmermädchen klatschten und übertrumpften einander im beiläufigen Fallenlassen ellenlanger Namen, von denen keiner Theodor etwas sagte. Bittsteller standen Schlange, sie kamen aus der Provinz, sie kamen aus der verwüsteten Heimat von Madame, ihr Akzent war durch geschlossene Türen, ohne daß man ein Wort verstanden hätte, nur am Klang sofort zu erkennen. Sehr viele jüngere Damen und Herren saßen herum, kamen und gingen, von einer sonderbaren Unruhe getrieben, und unterhielten sich stundenlang, in offenbar grenzenloser Kenntnis der Örtlichkeiten, darüber, was man tun könne, am Nachmittag, heute abend, heute nacht, am morgigen Tag, um sich die Langeweile zu vertreiben.
Eine Unmenge Zeit, die für die mehr oder weniger ständigen Bewohner des Palasts allerdings auch im Übermaß zur Verfügung stand, wurde auf die Veränderung,
Weitere Kostenlose Bücher