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Der König von Luxor

Der König von Luxor

Titel: Der König von Luxor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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damals, vor der Jahrhundertwende, einen halben Tag und gute Nerven.
    »Norwich umsteigen, Richtung King’s Lynn!« hatte ihr der Fahrkartenverkäufer eingeschärft. »Aber rasch, es bleiben nur zehn Minuten Zeit!«
    Wider Erwarten hatte Sarah Jones die gestellte Aufgabe bewältigt und den Zug nach Swaffham erreicht, was – wie wir noch hören werden – mit gewissen Komplikationen verbunden war. Nun saß sie allein in ihrem Abteil und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen, wo die Landschaft an ihr vorüberzog, flach und nur von Steinwällen unterbrochen, die dunkle Striche über die Weiden zogen und die Grundstücksgrenzen markierten.
    Es war Frühling geworden. Ansehnliches Grün überzog die Landschaft, gewiß nicht so grün wie in Sussex, wo das grünste Grün zu Hause war, aber zweifellos von intensiverer Farbigkeit als die Ödnis um Ipswich.
    Sarah Jones stammte aus Ipswich, wo ihr Vater Hafenarbeiter war und in der Hauptsache Getreidesäcke schleppte. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt, und hätte sich nicht eine Frau aus der Nachbarschaft ihrer angenommen, Sarah wäre im Waisenhaus St. Albans gelandet oder sonstwo.
    Sarah war alles andere als dumm, aber für den Besuch der teuren Lateinschule, wo die Kinder der Kohlen- und Zuckerhändler, der Lagerhausbesitzer und Reeder erzogen wurden, fehlte dem Vater das Geld. Lange genug mußte Sarah ihren Vater piesacken, bis er ihr den Besuch einer Dame-School nahe dem Christchurch-Herrenhaus erlaubte, wo Mädchen wie Sarah lesen und schreiben, rechnen und das Nähen von Papierkleidern lernten.
    Nach Abschluß der Schule absolvierte sie ein weiteres Lehrjahr und wurde selbst Lehrerin an der Dame-School. Da starb ihr Vater bei einem furchtbaren Unfall. Ein Hafenkran stürzte um und begrub ihn. Seit jenem Tag ließ Sarah der Gedanke nicht los, sie würde in Ipswich vom Unglück verfolgt. Und so beschloß sie, die Stadt zu verlassen. Dem Reverend, der ihren Vater eingesegnet hatte, klagte Sarah Jones ihr Leid, und dieser zeigte Verständnis für ihren Wunsch, aus Ipswich fortzugehen. Er versprach sogar, ihr eine Anstellung als Lehrerin zu verschaffen. In Swaffham, in der Grafschaft Norfolk, werde eine Hilfskraft für die dortige Dame-School gesucht. Sie könne sich auf ihn berufen.
    Alles, was sie damals besaß, paßte in jenen braunen, mit Segeltuch bespannten Reisekoffer, den einst ihre Mutter in die Ehe gebracht hatte und der ihr nun auf der Holzbank gegenüberstand. Er zeichnete sich durch eine Besonderheit aus, die ihn von anderen Gepäckstücken unterschied. Aufgrund seiner Breite verfügte er über keinen Tragegriff in der Mitte, der es einem kräftigen Menschen ermöglicht hätte, den Koffer allein fortzutragen. Nein, der Koffer besaß nur zwei Griffe an beiden Seiten, und weil seine Breite jede natürliche Armspanne übertraf, war es unmöglich, das Gepäckstück allein fortzubewegen.
    Zum Glück war der Bahnhof in Norwich von vielen Menschen bevölkert, und Sarahs Aussehen äußerst adrett, so daß sie nicht lange nach bereitwilligen Helfern Ausschau halten mußte, die ihr Gepäckstück in den Zug nach Swaffham beförderten.
    Nun ruckelte Sarah erwartungsvoll ihrer Zukunft entgegen, unterbrochen von zahllosen Haltestellen auf Bahnhöfen, die irgendwie alle gleich aussahen, rotbraune Backsteinbauten von unterschiedlicher Größe, manche so klein, daß es nur einen einzigen Raum gab. Nach eineinhalb Stunden hatte Sarah ihr Ziel erreicht, und der Bahnhofsvorsteher, der dies durch lautes Rufen kundtat, war ihr sogar beim Ausladen ihres sperrigen Gepäcks behilflich.
    Jeder kennt das Empfinden, wenn man sich einer fremden Stadt zum ersten Mal nähert. Es ist entweder ein Gefühl freudiger Erwartung oder aber eine mit Abneigung verbundene Vorahnung. Was Sarahs Empfindungen betraf – sie war der einzige Fahrgast, der ausstieg –, so übertraf ihre Abneigung die Begeisterung bei weitem. Ratlos stand sie vor dem Bahnhofsgebäude, neben sich den großen Koffer, den zu heben sie nicht imstande war, und weit und breit keine Menschenseele. Von Hühnergackern abgesehen wirkte der Ort wie ausgestorben.
    Dort, wo sie herkam, in Ipswich, balgten sich um diese Zeit vor dem Bahnhof die Droschkenbesitzer um den besten Standplatz, Zeitungsverkäufer brüllten Neuigkeiten, und Kofferträger gab es genug. Nichts von all dem in Swaffham. Wäre damals, als sie hilflos vor dem Bahnhof stand, ein Zug aus der Gegenrichtung gekommen, sie wäre eingestiegen und zurück nach Ipswich

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