Der König von Luxor
Er war groß, hatte kräftige dunkle Haare, und sein Oberlippenbart verlieh ihm etwas Draufgängerisches. Carter war für mich der Abenteurer und Schatzgräber aus dem Märchen, der eines Tages seiner Prinzessin begegnet. Und die Prinzessin war ich.«
»Merkwürdig«, meinte Phyllis Walker nachdenklich, »ich hatte Howard gegenüber die gleichen Empfindungen. Für mich war er auch eine außerordentliche Erscheinung, ein weitgereister Abenteurer und erfolgreicher Schatzgräber, zu dem ich aufschaute. Howard nannte mich immer seine Prinzessin. Und so fühlte ich mich auch in seiner Gegenwart – zumindest am Anfang.«
»Und Sie, Miss Jones?« Lady Evelyn versuchte die alte Dame mit einem freundlichen Lächeln zum Sprechen zu bewegen. Aber die schien weit weg mit ihren Gedanken, bisweilen schmunzelte sie vor sich hin, als begegnete ihr ein Ereignis längst vergangener Tage.
»Und Sie?« wiederholte die Lady ihre Frage, »welche Empfindungen hegten Sie gegenüber Carter?«
»Ich?« Miss Jones schreckte hoch. »Nein, als Prinzessin fühlte ich mich Howard gegenüber nie. Das verhinderte schon der Altersunterschied. Sie müssen bedenken, ich war achtundzwanzig, Howard war fünfzehn, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Ich war seine Lehrerin. Trotzdem – Howard war die große Liebe meines Lebens.«
Phyllis und Lady Evelyn warfen sich einen vielsagenden Blick zu, ja Phyllis zeigte sich sogar entrüstet, jedenfalls konnte sie ihr Erstaunen kaum verbergen, als sie fragte: »Sie wollen damit sagen, daß Sie mit Howard…« Weiter kam sie nicht.
Miss Jones blickte an sich herab. »Sie vergessen, daß auch ich einmal jung war, Miss Walker. Und mit den Jahren werden wir alle von der Schwerkraft besiegt und etwas schäbig.«
»Verzeihen Sie, Madam, so war das nicht gemeint. Ich dachte nur, Howard habe mir alles erzählt. Wenn er von seiner Jugendzeit redete, erwähnte er immer nur einen Namen, und er behauptete, diese Frau sei seine große Liebe gewesen.«
»Das kann ich bestätigen«, ergänzte Lady Evelyn. »Als wir zum ersten Mal über Liebe sprachen, meinte er, er kämpfe noch immer gegen die Erinnerung. Und dabei nannte er einen Namen.«
»Welchen Namen?« erkundigte sich Miss Jones, nun weit weniger selbstbewußt als noch vor wenigen Augenblicken.
»Sarah!« antwortete Lady Evelyn.
Und Phyllis ergänzte: »Ja, Sarah!«
»Ich bin Sarah. Sarah Jones.« Über ihr Gesicht huschte ein stolzes Lächeln, dann wandte sie ihren Blick beinahe schamhaft zur Seite und sagte: »Ja, ich gebe zu, unser Verhältnis war ungewöhnlich; doch ich kann sagen, es war kein Irrtum. Für ein paar Monate war ich der glücklichste Mensch auf der Welt. Manche Menschen brauchen eben ein halbes Leben, um zu wissen, was Glück ist…«
Für Augenblicke schien an dem Tisch im Tea-Room die Zeit stillzustehen. Phyllis und Lady Evelyn, die gerade noch überzeugt gewesen waren, sie hätten die wichtigste Rolle in Carters Leben gespielt, mußten auf einmal einsehen, daß ihnen eine mächtige Konkurrentin diese Rolle streitig machte. Nun war ihre Neugierde groß, in Carters Vorleben Einblick zu gewinnen, schließlich hatten ihn beide erst im stolzen Mannesalter kennengelernt.
Sarah Jones wiederum brannte darauf, die näheren Umstände zu erfahren, die zu Carters Erfolg geführt hatten. Sie hatte all die Jahre jeden Zeitungsausschnitt gesammelt, der über ihn erschienen war. Liebevoll hatte sie alle Ausschnitte in ein Album geklebt und mit Tränen in den Augen so oft gelesen, bis sie die Texte auswendig konnte. Und mehr als einmal hatte sie laut vernehmbar zu sich gesagt: Sarah, du bist eine Närrin.
Den Mut, zu seiner Beerdigung zu kommen, hatte Sarah Jones gefaßt, nachdem sie den Nachruf in der London Times gelesen hatte. Er endete mit dem Satz: He was unmarried – er war unverheiratet. Das hatte natürlich nichts zu sagen. Oder vielleicht doch? Jetzt hoffte auch sie, mehr zu erfahren.
Je länger sich Sarah Jones, Lady Evelyn und Phyllis Walker unterhielten, desto mehr wich das Mißtrauen zwischen ihnen. Je mehr sie voneinander erfuhren, desto mehr gelangten sie zu der Erkenntnis, daß das Schicksal einer jeden mit dem der anderen verknüpft war.
Die drei Frauen vergaßen die Zeit. Und indem jede aus ihrer Vergangenheit erzählte, wurde noch einmal das Leben des Mannes lebendig, den man den König von Luxor nannte.
E RSTES B UCH
K APITEL 1
Um von Ipswich in East Suffolk nach Swaffham zu gelangen, brauchte man
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