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Der König von Luxor

Der König von Luxor

Titel: Der König von Luxor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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gefahren. Aber es kam kein Zug.
     
     
    Die matte Frühlingssonne stand tief, als auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein hochgewachsenes Bürschchen auftauchte. Der Junge mit dunklen Haaren und blassem Gesicht trug ein Schmetterlingsnetz in der Linken, über der rechten Schulter hing eine Botanisiertrommel. Mit weit ausholenden Schritten, die seinem Gang etwas Komisches verliehen, versuchte er sich, starr geradeaus blickend, an Sarah Jones und ihrem Schicksal vorbeizustehlen. »He da!« rief Sarah ebenso hilflos wie verzweifelt, »he da, kannst du mir nicht zur Hand gehen? Soll auch dein Schaden nicht sein!«
    Der Junge machte halt, musterte die fremde Frau einen Augenblick, kam dann über die Straße und packte wortlos den Koffer am rechten Griff. Sarah faßte den linken. Ohne überhaupt zu fragen, wohin sie denn wolle mit ihrem Kleiderkasten, gingen sie ein kurzes Stück nebeneinander her, bis Sarah das peinliche Schweigen des jungen Mannes, der immer geradeaus blickte, unterbrach: »Willst du denn überhaupt nicht wissen, wohin ich will?«
    Der Junge grinste, ohne die Fremde anzusehen. Dann meinte er mit dünner Stimme, wobei er die Vokale wie in Norfolk üblich ungewöhnlich in die Länge zog: »Wo werden Sie schon hinwollen, Miss, zu Mr. Hazelford am Marktplatz halt. Ihm gehört das ›George Commercial Hotel‹, ein anderes gibt es nicht in der Gegend.«
    Sarah hatte Mühe, den langen Schritten des Jungen zu folgen, und dabei bot sich kaum die Möglichkeit, ihn unbemerkt von der Seite zu betrachten. Nur soviel blieb ihr im Gedächtnis: Sein markanter Kopf hatte eine langgezogene, dreieckige Form, die Nase länglich, das Kinn spitz. Trotz seiner Größe wirkte er nicht sehr kräftig, und deshalb war das Alter des jungen Mannes schwer abzuschätzen.
    »Reden die Leute in Swaffham alle soviel?« fragte Sarah, nachdem sie wieder eine Weile schweigend nebeneinander her gegangen waren.
    Der Junge grinste, und dabei sah er Sarah Jones zum ersten Mal ins Gesicht. »Ach, wissen Sie, Miss, damit müssen Sie sich abfinden. In Swaffham wird jeder, der mehr als fünf Sätze redet, als Schwätzer bezeichnet. Woher kommen Sie, Miss?«
    »Ipswich«, erwiderte sie – nun ihrerseits kurz angebunden.
    Der junge Mann pfiff leise durch die Zähne, was Sarah als Bewunderung deutete, doch mußte sie sich wohl geirrt haben, denn schon im nächsten Augenblick meinte ihr Begleiter: »London. Ich komme aus London. Brompton, falls Sie es kennen.«
    »Nein«, erwiderte Sarah irritiert, »ich war nie in London. Nur einmal in Sussex. Meinst du, ich habe etwas versäumt?«
    »Hm.« Der Junge legte den Kopf zur Seite und ging stumm weiter.
    In der Ferne tauchte ein klotziger Kirchturm auf mit hohen Fenstern nach allen Seiten, in deren Mitte jeweils eine Uhr die Zeit verkündete.
    »St. Peter und Paul!« meinte der Junge, der Sarahs interessierte Blicke wahrnahm. »Und was verschlägt Sie nach Swaffham, Miss?«
    Sarah sah keinen Grund, den Zweck ihres Besuchs zu verheimlichen. Dabei konnte sie nicht ahnen, welche Wirkung ihre Antwort zur Folge haben würde. Also antwortete sie ohne nachzudenken: »An der hiesigen Dame-School ist eine Stelle vakant. Ich bin Lehrerin.«
    Kaum hatte sie geendet, da ließ der Junge den Koffer fallen, als habe ihn der Blitz getroffen, und ohne eine Erklärung rannte er in die Richtung fort, aus der sie gekommen waren. Sarah wußte nicht, wie ihr geschah.
    Aus einer Seitenstraße näherte sich ein Mann in gebeugter Haltung. Ihn anzusprechen wagte sie nicht, er erschien ihr einfach zu schwächlich, um ihr beim Transport ihres Gepäcks behilflich zu sein. Doch der Alte trat auf sie zu, sah sie von unten an und rang sich ein Grinsen ab, wobei zwei oder drei schwarze Zahnlücken sichtbar wurden.
    »Wo wollen Sie denn hin mit Ihrem Schrank, Miss?« fragte er mit betonter Höflichkeit.
    »Ist es noch weit bis zum ›George Commercial Hotel‹?« fragte sie zurück.
    »Ach wo«, antwortete der zahnlückige Alte und zeigte in Richtung des klotzigen Kirchturms. »Keine fünf Minuten.«
    »Wären Sie bereit, solange auf meinen Koffer aufzupassen?« fragte Sarah. »Ich mache mich auf den Weg zu dem Hotel und schicke einen Kofferknecht mit einem Karren vorbei.«
    Der Alte nickte und wiederholte seine Armbewegung in Richtung des Kirchturms.
    Länger als erwartet dauerte die Suche nach dem Hotel, denn es lag keineswegs bei dem Kirchturm von St. Peter und Paul, wie der Alte bedeutet hatte, sondern gegenüber, unmittelbar

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