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Der König von Luxor

Der König von Luxor

Titel: Der König von Luxor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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aufsuchen, als hinter der Mauer eine Gestalt hervortrat und sich mit einem Satz auf den Boden warf, als gelte es, ein flinkes Tier einzufangen.
    Sarah Jones erkannte den jungen Carter sofort, der, mit beiden Händen einen Hohlraum formend, bäuchlings auf dem grasbewachsenen Boden lag. Vorsichtig nahm er ein lebendiges Etwas vom Boden auf, da erblickte er die Frau in einiger Entfernung.
    »Oh, Miss Jones!« rief er freundlich und trat mit hohlen Händen auf sie zu. Mit dem Kinn deutete er auf seine Hände, dann sagte er stolz: »Ich habe eine Eidechse gefangen. Wollen Sie mal sehen?«
    Miss Jones schüttelte heftig den Kopf: »Lieber nicht. Es heißt, daß Eidechsen ihren Schwanz verlieren, sobald sie mit Menschen in Berührung kommen.«
    »Das stimmt nicht, Miss Jones!« ereiferte sich Howard. »Salamander werfen ihren Schwanz ab, sobald sie sich vom Menschen bedroht fühlen. Auf Eidechsen trifft das nicht zu. Hier, sehen Sie!«
    Der junge Carter öffnete behutsam den Käfig seiner Hände, in dem sich die Eidechse befand. Aber noch ehe beide die Unversehrtheit des grünschimmernden Reptils begutachten konnten, schnellte dieses aus der Öffnung, klatschte zu Boden und verschwand in einer der zahllosen Mauerritzen. Deutlich sehen konnte man, daß es seinen Schwanz wohlbehalten nach sich zog.
    »Tut mir leid, Howard«, sagte Sarah entschuldigend.
    Aber Howard winkte ab: »Ich fang mir eine neue. War ohnehin ein ziemlich kleines Exemplar für meine Zwecke.«
    Einen Augenblick überlegte Sarah Jones, was er mit dem Tierchen wohl anfangen wollte und daß er für Lausbübereien doch schon etwas zu alt war. Aber Carter schien ihre Gedanken zu erraten, denn er sagte, noch ehe sie eine Frage stellen konnte: »Jetzt wollen Sie natürlich wissen, warum ich Eidechsen fange, Miss Jones. Warten Sie.«
    Ohne ihre Antwort abzuwarten, verschwand er hinter der Mauer. Als er zurückkehrte, hielt er ihr einen Skizzenblock entgegen. »Pflanzen und Tiere, müssen Sie wissen, sind meine Leidenschaft!«
    Der Block enthielt gewiß zwei Dutzend kunstvolle Skizzen von Büschen und Blumen, Vögeln und Schmetterlingen.
    »Wie finden Sie die Bilder?« Howard sah sie erwartungsvoll an.
    Miss Jones mochte nicht so recht glauben, daß der Junge die Arbeiten selbst gemacht hatte. Vor allem wollte sie nicht glauben, daß dieser Junge jener Howard Carter war, der in der Dame-School meist geistesabwesend in der letzten Reihe saß. Neugierig betrachtete sie seine schalkhaften Lippen, seine glückverheißenden, lächelnden Augen und seine hochaufgeschossene Gestalt. Anders als in der Schule redete Howard frei und natürlich und ohne jede Hemmung. Sarah starrte den Jungen nachdenklich an.
    »Nun sagen Sie schon, wie finden Sie meine Bilder?« wiederholte Howard mit Nachdruck.
    »Gut. Ziemlich gut sogar«, stammelte sie verwirrt. »Woher hast du nur dieses Talent?«
    Howard hob die Schultern. »Von meinem Vater. Es liegt wohl in der Familie.«
    »Er lebt nicht mehr?«
    Der Junge nahm ihr den Skizzenblock aus der Hand. »Wer sagt das?« fragte er und zog die Stirn in Falten.
    »Mrs. von Schell machte eine Andeutung. Sie sagte, zwei Tanten hätten dich an Kindesstatt angenommen.«
    »Ja, wenn Mrs. von Schell das behauptet!«
    »Stimmt es etwa nicht?«
    Carter drehte sich um und machte ein paar Schritte in Richtung des Gemäuers. Dabei rief er mit lauter Stimme, daß es in der Ruine widerhallte: »Nein, das stimmt nicht, Miss Jones!« Er blieb stehen, drehte sich um und kam wieder zurück. Und in leiserem Tonfall fuhr er fort: »Mein Vater lebt in London. Ebenso meine Mutter. Sie deklamiert täglich von früh bis spät Shakespeare. Obwohl sie bereits elf Kinder zur Welt gebracht hat, ist sie immer noch von dem Gedanken besessen, eine berühmte Schauspielerin zu werden. Da bleibt für den Elften natürlich keine Zeit.«
    »Das habe ich nicht gewußt«, sagte Sarah entschuldigend.
    »Woher auch«, bemerkte Carter bitter, »woher auch, Miss Jones.« Und nachdem er eine Weile geschwiegen hatte: »Aber ich will nicht klagen. Fanny und Kate, die Schwestern meines Vaters, sind für mich wirklich wie Ersatzeltern. Habe ich damit alle Fragen beantwortet?« Howard schluckte.
    Sarah Jones blieb nicht verborgen, wie sehr er unter dieser Situation litt, aber sie hatte Hemmungen, irgend etwas zu sagen, was ihn hätte aufheitern können. Und als sie sich endlich zu einer Erwiderung durchrang, da wurde ihr schon im nächsten Augenblick klar, daß ihre Rede falsch, ja töricht

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