Der König von Sibirien (German Edition)
kräftig und hatte einen Quadratschädel mit kurzem Borstenschnitt. Mit der Urkraft eines Bären versuchte er alles zu wuchten. Aber nach zwei Stunden war er müde und seine Finger aufgerissen.
Warum sind seine Finger jetzt schon aufgerissen, wunderte sich Alexander. Und überhaupt keine Schwielen sind zu sehen, richtig zarte Hände hat er. Wo hat er denn bisher gearbeitet? Der Neue setzte sich auf ein Gleis und schaute ihn an. Regen lief ihm ins Gesicht, sein Hemd war klatschnass.
»Brauchst du keine Regenkleidung?«
Der Quadratschädel schüttelte den Kopf und grinste. »Habe ich vergessen.«
Leonid, der Brigadier, schlenderte heran, rief Alexander zu sich und wollte mit ihm über den weiteren Arbeitsablauf sprechen. Gemächlich wanderten sie ein paar Schritte auf der Trasse umher.
»Hier läuft was«, raunte er Alexander zu, als sie außer Hörweite waren. »Es geht um dich. Einer der Männer hat zufällig auf der Verwaltung mitbekommen, wie dein Name gefallen ist, dass du in Wirklichkeit aber ganz anders heißen sollst und man noch auf eine Bestätigung von irgendwoher warte. Dann könne man sich dir zuwenden oder so ähnlich. Sag mal, wirst du gesucht?«
Alexander zögerte mit der Antwort, aber er war bleich geworden.
»Also wirst du gesucht«, konstatierte Leonid trocken, als sei das etwas vollkommen Normales. »Verlier jetzt um Himmels willen nicht die Nerven.«
Alexander reagierte nicht, er schien abwesend zu sein.
Leicht stieß Leonid ihm in die Seite. »Hast du gestern den im Anzug gesehen?«
»Wen meinst du? Den Älteren oder den Dicken?«
»Gibt es auch noch einen Älteren?« wunderte sich Leonid. »Dann meine ich den anderen. Der war damals Dolmetscher der Österreicher, nicht?«
Alexander nickte.
»Und der Neue«, Leonid deutete über die Schulter zu dem Quadratschädel, »hat noch nie in seinem Leben richtig zugepackt, obwohl er aussieht wie ein Möbelkran. Vergisst einfach den Regenumhang.«
Um für den Neuen nicht aufzufallen, zeigte Leonid auf gewisse Dinge, als müsse er Alexander etwas erklären. »Was hast du dem Österreicher alles erzählt?«
»Ich weiß nicht mehr. Die Wahrheit, wie es uns hier geht.«
»Mann, bist du nicht mehr bei Trost?«
Wieder einige Meter weiter blieb Leonid stehen, bückte sich und wies auf die Gleise.
Alexander hockte sich neben ihn. »Hat der Österreicher etwas von dir?« Alexander biss sich auf die Lippen.
»Kirjan, es muss doch einen Hinweis auf dich geben. Was denkst du, weshalb ...«
»Einen Brief.« Alexanders Ton war etwas patzig wegen der Anspannung, die ihn erfasst hatte. »Adressiert an eine Frau in Deutschland.«
Leonid erhob sich. »Das ist es. Und was steht in dem Brief?« »Private Dinge.«
»Auch dein ... richtiger Name?«
»Nein, ich glaube nicht.«
Leonid wollte schon aufatmen.
»Aber ich habe ihn dem Österreicher genannt.«
»Idiot«, zischte Leonid und fügte hinzu: »Wir werden von dem Möbelkran beobachtet. Musst gleich wieder zu ihm hin.«
»Miliz?«
»Nein, eher KGB. Du scheinst ja ein schwerer Brocken zu sein.«
Alexander überging die Anspielung. »Und warum hat er mich noch nicht verhaftet?«
»Wegen der fehlenden Bestätigung. Was weiß ich. In den nächsten Stunden wird er Verstärkung erhalten.«
»Und jetzt?«
Leonid sah ihn nur an. Sie wanderten zurück zu der arbeitenden Gruppe. »Ich gehe in dein Zimmer und nehme deine privaten Dinge. Wo hast du alles versteckt?«
»Unter dem Bett habe ich zwei Fußbodenbretter gelockert.«
»Gut. Du arbeitest mit dem Wuchtigen weiter. Mach ihn körperlich richtig fertig, der kann unsinnige Arbeit von sinnvoller nicht unterscheiden. Lass ihn ruhig den Schotter stochern.«
Alexander zögerte.
»Hast du kein Vertrauen zu mir?«
»Doch.«
»Na also. War haben es jetzt ...«, Leonid warf einen Blick auf seine Armbanduhr, »... bald zehn. Wenn bis zum Ende der Mittagspause niemand mit dem Hubschrauber auftaucht, dann kehrst du zu deiner Arbeitsstelle und dem Wuchtigen zurück. Er darf keinen Verdacht schöpfen. Aber spätestens um drei musst du am Schwellendepot sein. Dort warte ich.«
»Du willst mich ...«
Leonid drehte sich um und verschwand.
Alexander war wieder einmal beeindruckt vom Nachrichtendienst des Arbeitercamps, dem nichts zu entgehen schien. Wie sie das wohl mit dem Dolmetscher und dessen wahrer Funktion herausgefunden hatten? War der Mann mitgekommen, um ihn zu identifizieren? Außerdem ahnte Alexander längst, dass er nicht der einzige entkommene
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