Der König von Sibirien (German Edition)
ungestüme Bedürfnis erfasst, seine Mutter zu besuchen. Er sah sie vor sich, wie sie ihn nach dem Urteil ermahnte, sich in Haft zu benehmen. »Mach mir keine Schande«, lautete ihr Standardspruch schon zu seiner Schulzeit, wenn er, was selten vorkam, irgendwo eingeladen war. Was er unter Schande zu verstehen hatte, wusste er als Junge noch nicht, und heute waren die Grenzen verrückt. Schande kannte Alexander nicht, sondern nur Mittel und Wege, um zu überleben, und das war weiß Gott keine Schande.
Was der Grund für seinen plötzlichen Wunsch war - er wusste es nicht. Die Zeit der Trennung, redete er sich ein, weil ihm das als Erklärung schlüssig schien. Mehr als sieben Jahre habe ich sie nun nicht mehr gesehen, überlegte er. Immerhin ist sie meine Mutter.
Verstärkend kam hinzu, dass Alexander außer ihr keine weiteren Angehörigen hatte. Bisher fand er das nicht weiter schlimm, eher angenehm, da er sich als Einzelgänger fühlte. Ein Wolf auf der Fährte. Nun aber gab es Anna, die unbedingt seiner Familie vorgestellt werden wollte. War sie der eigentliche Auslöser?
Aber Alexander wusste auch, es war gefährlich. Gut, seit seiner Flucht aus Ust-Port und von der dicken Rima waren knapp drei Jahre vergangen, und in der Zwischenzeit war ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Er fühlte sich sicher und unbeobachtet, niemand hatte eine Ahnung, wo er sich befand. Aber in Omsk bei seiner Mutter auftauchen, das war etwas anderes. Wenn man es nach der langen Zeit immer noch auf ihn abgesehen hatte, dann konnte es durchaus sein, dass ihr Haus beobachtet wurde oder es zumindest im Wohnblock einen Spitzel gab, der Alexanders Auftauchen sofort melden würde. Deshalb hatte er vorsichtig zu sein.
»Mast du nach Hause geschrieben, dass du kommst?«
»Ja.«
»Und wo ist die Antwort?«
Er richtete sich halb auf. »Anna, was soll das? Willst du mich verhören?«
Sie wich seinen Augen aus. Mit stockender Stimme antwortete sie: »Ich habe Angst, dass wir uns nie mehr wieder sehen.«
Sein Lachen klang aufgesetzt und zu laut, um echt zu wirken. »Das redest du dir doch bloß ein.«
So von Anna vorgewarnt, bemühte sich Alexander in den kommenden Wochen sehr um sie. Und gerade deswegen wurde Anna immer trauriger, mehr und mehr bedrängte sie ihn, mitfahren zu dürfen.
»Ich habe auch ein Urlaubsgesuch eingereicht«, verkündete sie ihm. »Im April. Genau wie du.«
Das war dann der Anlass für den ersten größeren Streit. Er warf ihr vor, sie misstraue ihm. Dazu habe sie jedoch keinen Grund. Sie konterte, er mache ein Geheimnis um seine Urlaubsreise. Überhaupt sei er so schweigsam und geheimnisvoll. Da stimme doch etwas nicht. Noch nie habe sie jemanden kennengelernt, der sich so gebe wie er. Keine Freunde, keine lustigen Feiern, kein gemütliches Beisammensein, immer allein und unter Spannung. Und oft so überaus ernst und bedrückt, als laste eine Schuld auf ihm. Oder sonst was.
»Quatsch. Ich bin halt so.«
»Aber warum nur du? All die übrigen sind anders. Ich ...«
»Wenn du einen von den Schwachköpfen willst, dann such dir jemanden«, unterbrach er sie.
Daraufhin hatte sie ihn aus dem Zimmer geworfen. Alexander, der die Stimmung nicht noch mehr aufheizen wollte, verbrachte die Nacht bei Leonid, dem Brigadier, der einer der wenigen standfesten Junggesellen war, ohne ein Kostverächter zu sein.
»Immer, wenn es mit den Weibern brenzlig wird«, erklärte Leonid Alexander seine Taktik, »dann erzähle ich von zu Hause, meiner Frau und den drei Kindern. Was denkst du, wie schnell ich die Blume wieder los bin.«
Seit Stunden nieselte es, und es war so diesig, dass die Spitzen der Nadelbäume an den Wolken kratzten. An und für sich hätte Alexanders Misstrauen Alarm schlagen müssen, als er während der Mittagspause in der Gastiniza den korpulenten Dolmetscher in Anzug, verschwitztem weißem Hemd, Krawatte und Regenschirm bemerkte. Wird wohl wieder eine Besuchergruppe begleiten und fürs Übersetzen ins Deutsche zuständig sein, wie damals bei den Österreichern, mutmaßte Alexander.
Im Hinausgehen registrierte er einen schlanken Mann, wohl schon sechzig Jahre alt, der etwas abseits saß und fremdländisch wirkte, weil er so auffallend gut gekleidet war. Er lächelte Alexander zu und nickte leicht.
Wieder an der frischen Luft, verschwendete er keinen weiteren Gedanken an den Fremden. Alexander wurde auch noch nicht stutzig, als sich am nächsten Tag ein neuer Arbeiter zu ihm gesellte. Er war sehr groß,
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