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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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andere, vertrau keinem und achte stets darauf, wer hinter deinem Rücken ist. In Zukunft siehst du nichts, hörst nichts und sagst nichts. Hast du mich verstanden?«
    Die Nacht war schrecklich. Kälte breitete sich in dem zugigen Gefängnis aus und deckte alle mit Taubheit zu. Die Blatnoij hockten mitten in einem Berg Leiber, sie mussten die Zugluft von ihnen fernhalten. Außerdem steckten ihre Körper in gefütterten Jacken und Mänteln, und auf dem Kopf trugen sie Schapkas, Pelzmützen mit großen Ohrenklappen. Alexander und Mikola rückten zusammen, denn Kälte konnte: jedes Vorurteil über Körpergeruch besiegen. Und noch ein Dritter gesellte sich zu ihnen. Abwechselnd drehten sie sich so, dass immer einer als Schutzschild die Kälte des Fahrtwindes abbekam. Nach wenigen Minuten tauschten sie wieder die Plätze.
    Alexander machte in der Nacht kein Auge zu. Stockduster war es in dem ratternden Verließ, lediglich an den Wänden gab es einige helle Streifen, durch die das Mondlicht schimmerte. Stundenlang lauschte Alexander dem monotonen Fahrgeräusch, das immer wieder unterbrochen wurde von einem harten Schlag, wenn die Räder über die zusammengeschraubten Enden der Schienen rollten und das eine nach unten gedrückt wurde. Irgendwo begann einer zu singen.
    »Gefangene singen, weil sie Angst haben«, sagte Mikola. »Ich habe immer gepfiffen, wenn ich als Junge in einen Keller oder einen dunklen Raum gehen musste. Ich hatte auch ständig Angst. Du nicht?«
    »Doch.« Alexander kroch um die beiden anderen herum, er war jetzt Schutzschild. Aber ihm war nicht nach Singen zumute, obwohl auch er spürte, wie sich in seinem Körper etwas ausbreitete und ihn vollkommen vereinnahmte. Er wollte es nicht zugeben, aber es war Angst. Angst vor dem, was ihn erwartete, und Angst davor, Hellen nie wieder zu sehen. Deshalb musste er sich ihr Bild unauslöschlich einbrennen, im Kopf und im Inneren und in all seinen Gedanken.
    Fahl kündigte sich der Morgen durch die Ritzen an. Da sie der aufgehenden Sonne entgegenfuhren, erkannten alle, die Fahrt ging nach Osten. Wohin auch sonst?
    Kaum, dass die ersten Strahlen den Weg in den Gefangenentransporter fanden - schmerzlich erinnerte sich Alexander an die letzte Nacht im Hotel National, als sich die Sonne durch den Spalt zwischen den Vorhängen hindurchmogelte -, vernahm er einen Schrei aus dem mittleren Teil des Wagens. Einige Männer sprangen auf und starrten auf den Boden.
    »Er ist tot«, rief jemand. »Er ist wirklich tot.«
    Nach und nach erhoben sich die Gefangenen. Nur die Blatnoij blieben, als könne sie nichts erschüttern, am Ofen hocken, der immer noch vor sich hin glußte.
    Alexander zwängte sich durch die Neugierigen und sah einen Körper am Boden liegen. Zusammengekrümmt, mit schmerzverzerrtem Gesicht, die Augen starr, blau die Lippen, und die Hände drückten gegen die Brust. Zwischen den Fingern erkannte Alexander einen spitzen Holzspan, jemand hatte ihn dem Mann in den Körper gerammt. Wer dazu in der Lage war, wusste jeder: nur diejenigen, die auch ein Messer besaßen.
    Einer der Männer deutete auf eine Stelle über den Blatnoij. Deutlich war an einer Bohle ein heller Streifen auszumachen, wie frisch herausgeschnitten.
    Drohend rückten die Häftlinge wie eine Wand gegen die am Boden hockenden Blatnoij vor. Die sprangen hoch, stellten sich im Halbkreis auf, zückten ihre Messer und blickten wild in die Runde. Keiner sagte ein Wort.
    Zögernd wichen die Männer zurück und ließen sich wieder auf ihre Plätze nieder. Ohnmacht war Bestandteil ihrer selbst geworden. Ohnmacht und Angst.
    Abermals hielt der Zug. Alexander sah draußen aber keinen Bahnhof und auch keine Häuser. Sie standen mitten auf der Strecke. Plötzlich hörten sie unter sich Geräusche. Immer lauter wurde das Hämmern, dann ein Bersten, Holz splitterte. Mitten im Wagen standen die Blatnoij, die Messer angriffslustig in der Hand. Plötzlich verschwand einer nach dem anderen durch eine Öffnung nach unten. Kaum war der letzte weg, setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
    Als gäbe es ein Wunder zu bestaunen, gruppierten sich die Häftlinge um das gezackte Loch. Rasend huschte einen Meter tiefer der Schotterkörper vorbei. Als der Junge, dem man in den Mund uriniert hatte, er hieß Anatoli, hinuntersteigen wollte, um in die vermeintliche Freiheit zu entweichen, die doch nur den sicheren Tod bedeutet hätte, hielten ihn einige zurück. Widerstrebend ließ sich Anatoli in eine Ecke führen. Deutlich

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