Der König von Sibirien (German Edition)
Schwesterchen Tanja, so hieß Alexanders leibliche, während der Deportation gestorbene Mutter, auf die Welt kam. Das Familienglück der Familie Robert Koenen schien perfekt. Oft fuhren sie zu viert hinaus in die Jagdhütte, wo Opa Nikolai seine letzten Lebenstage verbracht hatte. Nikolai junior war inzwischen schon so weit, dass man mit ihm darüber sprechen konnte.
Die Familienharmonie färbte auf Alexander ab. Er merkte, wie er ruhiger und ausgeglichener wurde. Seine innere Rastlosigkeit legte sich, zum erstenmal hatte er nicht das Gefühl, auf der Flucht zu sein. Heimat, kam es ihm in den Sinn. Als er vor Jahren nach Omsk gefahren war, um seine Mutter zu besuchen, und im Zug ein ungewohntes Kribbeln verspürte, da wusste er noch nichts mit dem Begriff Heimat anzufangen. Seine Auffassung von damals, er habe keine, hatte sich mittlerweile geändert. Hier in Kirensk waren seine Familie und seine Heimat.
Larissa, der immer noch eine Karriere in der Politik vorschwebte, unterstützte ihren Mann, wo es eben ging. Aber sie ordnete sich nicht unter. Im Gegenteil. Manche Dinge bestimmte sie unbewusst. Alexander vertraute ihrem Eindruck, wenn sie ihn vor einem neuen Geschäftspartner warnte. »Der ist nicht ehrlich, er macht dir was vor. Sei auf der Hut.« Oder wenn sie ihn, falls Alexander es genauer wissen wollte, auf die unsteten Augen verwies, das schlitzäugige Gehabe und andere Körpersignale, die sie verwirrten und stutzig werden ließen.
Am meisten jedoch freute sie sich über die Entwicklung ihres Mannes. »Auch ein riesiger Eisblock schmilzt in der Sonne.« Mehr aus Hoffnung, die sich nun zu erfüllen schien, hatte sie dies zu ihm gesagt, als sie sich vor längerer Zeit über Alexanders erste große Liebe unterhielten. Dabei war es aus Larissas Sicht keine Frage der kurzfristigen Wärme, sondern der Stetigkeit. »Was bedeutet dir deine Familie?«
»Sie ist mein ruhender Pol und bietet mir Schutz. Noch nie im Leben habe ich mich so behütet gefühlt.«
»Wie können wir dir, dem Starken und Erfahrenen, Schutz bieten?«
»Ihr bewahrt mich vor der Einsamkeit und davor, dass ich gefühlsmäßig verarme. Ich mag euch sehr.«
»Und du kommst dir auch wirklich nicht eingeengt vor?«
Er nahm sie in die Arme und küsste sie. »Nein. Bei euch tanke ich auf, bei euch blühe ich auf. Für mich hat das Leben zum erstenmal einen Sinn.«
»Aber eine Familie verpflichtet auch.«
Sie setzten sich vor die Jagdhütte auf eine Bank, Nikolai und Tanja schliefen bereits.
»Das stimmt. Als Einzelkämpfer war ich nur mir gegenüber verantwortlich. Ich habe mit mir und dem Schicksal gespielt, Leben und Gesundheit eingesetzt. Andere sehen in der leichtsinnigen Phase das Bedürfnis nach echter Herausforderung. Das würde ich nie mehr riskieren. Mit Feigheit aber oder was immer hat das nichts zu tun. Ich selbst habe für mich an Wert gewonnen.«
»Es spricht der Egoist.« Sie lachte und biss ihm ins Ohrläppchen. Ihre Haare kitzelten in seinem Gesicht.
»Deshalb möchte ich dich auch mit niemandem teilen.«
»Außer mit den Kindern.«
Er nickte und erinnerte sich einige Tage zurück, als er mit ihnen gemeinsam in der großen Wanne gebadet hatte. Das tat er öfter, und die Kleinen hatten immer ihren Spaß. Warum denn an einem Fuß zwischen den Zehen ein Loch sei, wollte seine Tochter wissen. »Ich war da mal sehr unvorsichtig, der Frost hat mir zwei Zehen abgenommen.« Mit erhobenem Zeigefinger hatte er sie dann mehr aus Verlegenheit belehrt: »Ziehe dich im Winter immer warm an. Versprichst du mir das:« Artig hatte sie genickt: und dabei seinen Unterschenkel mit der Verdickung untersucht.
Nikolai junior war mit etwas anderem beschäftigt. »Wer hat dir diesen Stern auf die Hand gemalt? Mir gefällt er nicht.«
Alexander hatte lange auf seinen Handrücken und das Mal der Vergewaltigung gestarrt und die Kinder vergessen.
»Womit ist der Stern gemalt worden?«
»Mit Eisen, einem schrecklichen Eisen.« Seine Stimme war ihm fremd vorgekommen, schlagartig hatte ihn eine innere Erregung erfasst. »Ich bin leichtsinnig gewesen und habe mich verbrannt.«
Die zarten Kinderfinger tasteten seinen Körper ab und legten sich mitfühlend auf die Spuren der Vergangenheit. Das entkrampfte ihn mit der Zeit.
Nach einer Weile regte sich Larissa. »Denkst du auch manchmal an die Zukunft?«
»Ja.«
»Wann willst du dir einen Nachfolger suchen?« Alexander verstand die versteckte Anspielung. »Habe ich nicht noch einige Jahre
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