Der König von Sibirien (German Edition)
Zeit?«
»Schon«, gab Larissa zu. »Aber mir wäre wohler, wenn du durch deine Tätigkeit nicht ständig gefährdet wärst.«
»Bin ich das?«
Sie nickte.
»Und wieso? Gibt es einen Anhaltspunkt dafür?« Larissa schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht, es ist bloß so eine Ahnung.«
Alexander traf lange vor der verabredeten Zeit ein und beobachtete die Besucher. An einem bewaffneten Doppelposten, der die Ausweise kontrollierte, quetschten sie sich vorbei und trotteten, von gelben Markierungen geleitet, hinter ihrem Reiseführer her wie Schafe dem Leithammel und bestaunten mit verwunderten Augen eines der sozialistischen Weltwunder: den Bratsker-Staudamm, den größten der Erde, mit einer so gigantischen Turbinenhalle, dass die Arbeiter mit Fahrrädern durch die Gegend radelten. Zwei von der Sorte hätten ganz Osterreich mit Strom versorgen können. Den Erzählungen nach müssen die Bauarbeiten in den fünfziger Jahren mörderisch gewesen sein, aber der Staat brauchte in der Ära nach Stalin ein prestigeträchtiges Projekt, und deshalb wurde Bratsk aus dem Boden gestampft. Damals betonte man gegenüber der Weltöffentlichkeit die Freiwilligkeit der Arbeitsleistung und die Begeisterung der jungen Arbeitskräfte. Weltweite Publizität erlangte der Bau, weil man ausländische Gäste einlud, um ihnen vor Ort den Fortschritt des Sozialismus - daran war eigentlich niemand interessiert - und das exzellente Lösen aller technischen Probleme vorzuführen.
Dabei gab es Pannen über Pannen, wie Alexander von einem älteren Arbeiter erfahren hatte, der von Anfang an dabei gewesen war. Ein Teil der schon gebauten Lena-Bahn wurde abgerissen, weil man Bratsk kurzfristig in Angriff genommen und die Strecke deshalb keine Funktion mehr hatte. Die Holzfäller, die mit der Rodung nicht nachkamen, sahen Hunderttausende von gefällten Stämmen im aufsteigenden Stausee verschwinden, und den meisten Strom verbrauchte ein Aluminiumwerk, ohne dabei jemals produktiv zu arbeiten. Und Tote habe das Unterfangen gekostet, viele Tote, die offiziell aber nirgends erwähnt würden.
Alexander folgte den Touristen. Ein hünenhafter, äußerst kräftig gebauter, junger Mann mit Vollbart - er hatte einen seltsamen Ausweis vorgezeigt, der lange begutachtet worden war - , der auch durch seine Kleidung, die nicht dem Standard des Landes entsprach, auffiel, sonderte sich etwas ab, spazierte weiter und stellte sich schließlich an ein Fenster. Mit Interesse beobachtete er draußen das aufschäumende, durch die Turbinen gejagte Wasser und die Nebelschwaden, die sich bildeten.
»Sie sind Herr Steinmetz?«
Der Fremde, er war einen Kopf größer als Alexander, drehte sich in seine Richtung »Robert Koenen? Oder Alexander Gautulin?«
Als Alexander nur mit der Schulter zuckte, wollte Steinmetz von ihm ein untrügliches Erkennungszeichen sehen.
»Könnte ich Ihnen jetzt nicht jedes x-beliebige vorzeigen?«
Der Kräftige lachte. »Ihr schief zusammengewachsenes Schienbein und die beiden fehlenden Zehen genügen mir.«
»Sie sind ja ausgezeichnet über mich informiert.«
In der Kantine für Besucher setzten sie sich an einen Fisch. Steinmetz nickte zufrieden, nachdem Alexander amüsiert die unverwechselbaren Körpermerkmale präsentiert hatte.
»Was haben Sie denn vorhin für einen interessanten Ausweis vorgezeigt?«
Steinmetz griff in seine Jackentasche und reichte Alexander ein hellgrünes gefaltetes Blatt aus Leinen.
»Universität Mainz, Fachbereich Sport?« Verwundert schaute ihn Alexander an. »Und damit hat man Sie ...?«
»Sieht er nicht ungemein amtlich aus?« feixte der Hüne.
»Schon, aber ...«
»Und da ihn keiner lesen konnte, muss er doch auch sehr bedeutungsvoll und wichtig sein, nicht?«
»Was wäre gewesen, wenn man Sie nicht hineingelassen hätte?«
Der Deutsche gab Alexander ein mit vier Stempeln aufgewertetes Dokument, unterschrieben von einem Minister der Ukraine, wonach der Inhaber auch als Ausländer berechtigt sei, sämtliche staatlichen Einrichtungen zu betreten, einschließlich die der Kategorie 1 b.
»Sie scheinen gute Beziehungen zu haben, Herr Steinmetz. Alle Achtung. Wodurch kommt das?«
Der Angesprochene steckte die Papiere wieder ein. »Möchte nicht darüber sprechen.«
Alexander wechselte das Thema. »Sind Sie nur meinetwegen in Bratsk?«
Steinmetz verneinte. »Ich schreibe an meiner Examensarbeit und halte mich deswegen mehrere Monate in Sibirien auf.«
»Welches Thema?«
»Die Bedeutung der Eisenbahn
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