Der König von Sibirien (German Edition)
»Bitte, sprich weiter.«
»Als ich wenige Monate später wieder in Moskau war, hat man mich auf Schritt und 'tritt beobachtet. Daraufhin habe ich Kontakt mit der Botschaft aufgenommen und einen Attache gebeten, dich in der Lomonossow-Universität aufzusuchen. Aber da gab es keinen Studenten namens Alexander Gautulin. Über einen Bekannten, er arbeitete für einen Konzern und hatte eine hohe Position, konnte ich später in Erfahrung bringen, wo deine Mutter in Omsk wohnte. Du hast von ihr gesprochen.«
»Ich erinnere mich.«
»Zweimal versuchte der Bekannte mit ihr in Kontakt zu treten. Immer wurde er vor der Tür von Männern abgefangen, die sich als Mitarbeiter eines Ministeriums ausgewiesen haben. Beim zweiten Mal erklärten sie ihn zur unerwünschten Person und forderten ihn auf, sofort das Land zu verlassen. Dann sah ich diesen Film. Ein Jahr später, glaube ich, war es.«
»Welchen ...? Den die Schweizer in einem Lager gedreht haben?«
Hellen senkte den Kopf und nickte. Stockend erzählte sie weiter. »Du hattest kurz geschorene Haare und warst so mager. Richtig krank hast du ausgesehen. Aber deine Augen, die haben mich verwirrt. In ihnen war etwas, eine seltsame Wildheit, ein ... ich kann es nicht beschreiben. Und als du die Zustände geschildert hast...« Nach wenigen Augenblicken fuhr sie fort. »Der Film hat hier bei uns sehr viel Wirbel verursacht. Tausende von Zuschriften gingen bei dem Sender ein, und ich habe eine Unterschriftensammlung an die russische Botschaft nach Rolandseck geschickt. Weißt du, wie viele unterschrieben haben?« Hellen sprang auf. »In vier Tagen neunundzwanzigtausend. Ein riesiger Karton voll mit Unterschriften und Adressen.« Mit den Händen zeigte sie die ungefähre Größe an. »Also, die haben vielleicht geguckt. Und wie ich gehört habe, sind außerdem sehr viele Briefe aus ganz Deutschland in Rolandseck eingegangen. Alle haben gebeten, nichts gegen den Gefangenen zu unternehmen, der sich so freimütig geäußert hat. Sogar ein Minister aus Nordrhein-Westfalen ist in der russischen Botschaft vorstellig geworden. Und dann die Briefe aus dem Ausland.«
Jetzt kannte Alexander den Grund, warum man ihn am Leben gelassen hatte. Ihn und Pagodin.
»Ich bin nach Bonn gegangen und habe unsere Regierung gebeten, etwas für dich zu tun. Man hat es versprochen, immer wieder versprochen. Irgendwann kam die Zusicherung aus Moskau, du hättest nichts zu befürchten. Inzwischen seiest du in einem anderen Arbeitslager mit wesentlich besseren Bedingungen untergebracht. Dem Brief lagen Fotos des Lagers bei, und auf einem warst du sogar deutlich zu erkennen.« Hellen lief aus dem Wohnzimmer und kam mit den Fotos zurück.
Alexander erkannte das Lager SIB 12. Den Funkmast, die Kantine und zwei Baracken. »Ja, hier war ich. Und das bin ich wirklich.« Er deutete auf ein anderes Bild. »Ich habe nicht gemerkt, dass man mich fotografiert hat.«
Er wandte sich ab, schaute hinaus in die Dunkelheit und sah Pagodin, wie er vor seiner Holzunterkunft stand und nach Süden blickte. In die Richtung, aus der er das Rote Kreuz erwartete.
»Unerklärlicherweise war ich nach den Fotos beruhigt. Außerdem hatte ich den Findruck, als legte die sowjetische Botschaft in Rolandseck großen Wert darauf, mir mitzuteilen, dir ginge es gut. Alex, ich habe sehr oft dort nachgefragt, bis man mich eines Tages empfing und mir zu verstehen gab, mein Besuch sei nicht mehr erwünscht. Du seiest zum mehrfachen Mörder geworden, ein Feind der Sowjetunion.«
»Das war im
»... Spätsommer 1966.«
»Meine Flucht und vorher der Aufstand der Blatnoij. Es sind wirklich viele umgekommen, darunter auch einige der Wachmannschaft. Aber ich habe keinen getötet. Klimkow und ich, wir sind einfach ...«
Sie legte ihm eine Hand auf den Unterarm, weil er sich erregte. Und sie fand es gut, dass er so großen Wert auf die Richtigstellung legte.
»Möchtest du … möchtest du den Film der Schweizer sehen?« »Du hast ihn .. .«
»Ja. Zuerst als Schmalfilm, jetzt auf Video.«
Hellen schaltete den Fernseher ein. Alexander erkannte sich, wie er verlegen in die Kamera schaute und zuerst zögernd, dann immer flüssiger zu erzählen begann. Zum Schluss sprudelte es nur noch aus ihm heraus, eine Art Befreiung, sich alles von der Seele zu reden. Und Hellen sprach jedes Wort mit.
»Du hast ihn dir schon öfter angeschaut?«
Sie nickte. »Für lange Zeit war es der einzige Beweis, dass du lebtest.«
Hellen stand auf und schaltete den
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