Der König von Sibirien (German Edition)
Vergangenheit wurden plötzlich etwas klarer, und Hellen kam näher. Dann jedoch, als würde es jemand bewusst darauf anlegen, zerliefen alle Bilder, sogar das einprägsamste: Hellen, vom Regen durchnässt in der Universitätshalle. Stattdessen sah er die Spezialzelle vor sich, die Gurte, mit denen man ihn angeschnallt hatte, das Wasser auf seinem Körper. Und er spürte die Schmerzen im Kopf, zuerst nur zuckende Blitze, dann Wellen voller Pein. Nicht wirklich, aber das konnte er nicht unterscheiden. Gegen diese körperlichen Nachwirkungen und emotionalen Kapriolen, die mit Herzrasen und Schweißausbrüchen einhergingen, hatte Hellen keine Chance. Und weil dem so war, fühlte Alexander Trauer aufsteigen und Resignation. Er weinte.
Da Alexander so ausgiebig mit sich selbst beschäftigt war, bekam er nicht mit, wie man Mikola abholte. Warum, wusste niemand.
Zwei Tage später, sie gingen gerade zum Frühstück, schrie einer laut auf und deutete nach vorn. Alexander, der es sich in der letzten Zeit angewöhnt hatte, auf den Boden zu schauen, das gefiel den Wachposten, hob den Kopf und sah einen Körper am Zaun hängen, der ihm seltsam vertraut vorkam. Im Näherkommen erkannte er Mikola, mit auf den Rücken gefesselten Händen, den Kopf von einem Metallpfosten des Zaunes aufgespießt. Zwischen Unterkiefer und Kehlkopf eingedrungen, hatte sich das blutige Ende der Spitze oberhalb des linken Ohrs durch die geborstene Schädeldecke gedrückt.
Die Häftlinge blieben stehen und murrten, aber das Wachpersonal brachte sie wieder in Bewegung, indem es mit Knüppeln wie wild auf die gebeugten Rücken eindrosch.
Im Speisesaal gab es nur ein Thema: Mikola. Was war vorgefallen? Warum hatte man ihn umgebracht? Denn dass er umgebracht worden war, darüber gab es keinen Zweifel - die Füße so hoch frei über dem Boden baumelnd.
Am Abend machte dann das Gerücht die Runde, Mikola sei im Schizo gewesen. Aber warum, wusste niemand. Alexander, der nicht einschlafen konnte - immer wieder sah er den aufgespießten Mikola vor sich, die weit aufgerissenen Augen und die auf dem Rücken gefesselten Hände -, hatte das Gefühl, als würde er unter riesigen Wellen von Gewalt begraben. Schon wurde ihm die Luft knapp, er glaubte einen ungewohnten Druck auf der Brust zu spüren und atmete stoßweise. Wie gern wäre er gedanklich auf Reisen gegangen, nur weg von der grausamen Realität. Aber leider konnte er keine Zuflucht mehr bei Hellen finden, sie blieb für ihn ohne Gesicht.
Am nächsten Tag lernte er den Viehtreiber kennen, wie die Gefangenen den Natschalnik nannten. Kaum mittelgroß, dick, mit einer Halbglatze und hinterlistigen Augen starrte der Lagerchef, er war im Range eines Hauptmannes, Alexander an. Neben ihm saß ein zweiter Offizier, der Lagerpolitruk, verantwortlich für die politische Leitung.
Alexander musste sich mitten im Raum vor dem Schreibtisch aufstellen, hinter ihm verharrte einer vom Wachpersonal, der schon in
Vorfreude des Kommenden den Knüppel fester umschloss. Zu seinem Leidwesen schickte man ihn hinaus.
Leise sprach der Lagerchef zu seinem politischen Vertreter, der wesentlich jünger war, mit vollem Haar und einem nichtssagenden Gesicht. Der Politruk richtete dann eilfertig Fragen an Alexander. Er wollte vor seinem Vorgesetzten glänzen, das war ungemein wichtig für die Karriere.
»Gautulin, sehr traurig, was mit Mikola Plikussin geschehen ist. Findest du nicht auch?«
»Ja, Genosse ...« Alexander wusste nicht, wem er antworten sollte. Und als der Viehtreiber-Natschalnik gönnerhaft nickte, sagte er: »Jawohl, Genosse Hauptmann.«
»Bringt sich einfach um.«
»Jawohl, Genosse Hauptmann.«
»Dabei hätte er es bei uns so gut haben können. Dir geht es doch auch gut?«
»Jawohl, Genosse Hauptmann.«
»Kein Grund zum Klagen. Oder gibt es den?«
»Nein, Genosse Hauptmann.«
»Du bekommst ja auch Post von deiner Mutter. Schön, wenn man noch eine Mutter hat, die sich um einen sorgt.«
»Jawohl, Genosse Hauptmann.«
So ging das eine Weile. Der Viehtreiber raunte seinem Vertreter etwas ins Ohr, und der wandte sich an Alexander. Dabei sah der Natschalnik Alexander mit seinen kleinen, unsteten Augen an, als hätte er in ihm endlich das nächste Opfer gefunden.
»Ihr seid bereits im Zug zusammen gewesen?«
»Jawohl, Genosse Hauptmann.«
»Dann musst du doch schon damals festgestellt haben, wie depressiv Mikola war.«
Alexander zögerte, dem Politruk dauerte das zu lange. »Das hast du doch
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