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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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ergeben. Mord darf es nicht gewesen sein, weil in einem Lager offiziell keiner eines gewaltsamen Todes stirbt. Hast du das verstanden?«
    »Ja.«
    »Mikola war nun mal depressiv, wir alle haben es bestätigt. Und gegen Depressionen kann man niemanden schützen.«
    Der übliche Zählappell an diesem Morgen, aber ein unübliches Ergebnis: einer fehlte War ihm etwa die Flucht gelungen? Obwohl die Strafgefangenen stillzustehen hatten, wurde geraunt und getuschelt, und es bildeten sich Gruppen. Man sah ihren Gesichtern an, sie gönnten es dem noch Unbekannten, entkommen zu sein. Immer wieder kreiste die Frage: Wer ist es denn?
    So wurde spekuliert, man blickte sich um, alle Kollegen und Leidensgenossen schienen anwesend zu sein.
    Eine Stunde verging, die Häftlinge froren. Noch eine Stunde, dann kursierte unter der Hand die Nachricht, es habe sich etwas ereignet, und zwar in der Näherei. Müsse eine schlimme Sache sein, der Viehtreiber sei auch schon dort.
    »War da nicht Mikola beschäftigt?« fragte Wanja.
    Die Männer durften endlich wegtreten. Jetzt hätten sie in den Speisesaal eilen können, doch da existierte ja das Gerücht: Näherei. Weil die Wachen nicht instruiert waren, ließen sie die Gefangenen passieren. Sie seien auf dem Weg zur Arbeit, behaupteten diese, Frühstücken wollten sie heute nicht.
    Vor der Näherei stand ein Doppelposten mit Gewehr. Das war unüblich für den inneren Lagerbereich, denn bei einer Revolte hätten sich die Häftlinge die Waffen aneignen können. Die Strafgefangenen zwängten sich einfach an den Bewaffneten vorbei und gelangten in eine Halle mit dreißig verschiedenen Arbeitsplätzen, an jedem stand eine Nähmaschine. Nebenan gab es einen Raum, in dem das Material gelagert wurde. Ballen über Ballen von Stoff stapelten sich dort, alle in der Einheitsfarbe des Militärs: olivgrün. Mittendrin entdeckten sie den Viehtreiber, der den Sträflingen verwundert entgegenglotzte und sich einem Aufstand ausgesetzt glaubte.
    Die ersten waren schon an der Verbindungstür angelangt. Der Lagerleiter wollte sich ihnen in den Weg stellen, und sein Politruk bemühte sich, ihm beizustehen. Die Häftlinge, inzwischen aufgebracht, weil sie wegen der Umstände ahnten, dass einem von ihnen etwas Schreckliches widerfahren sein musste, quetschten sich vorbei und standen unvermittelt vor einer nackten Leiche. Gekrümmt Tag sie auf dem Boden, bleich die Haut, die Hände auf dem Rücken gefesselt, blutunterlaufene Würgemale am Hals. Aus dem Mund war weißer Schaum, wie dicke Milch, ausgetreten und hatte sich auf dem dreckigen Boden verteilt. Und Blut war zu sehen, es kam aus dem After des Toten.
    »Anatoli. Das ist Anatoli«, schrie Alexander und kämpfte sich nach vorn in die erste Reihe. Er bückte sich, da wurde er von hinten gepackt und in die Menge zurückgestoßen.
    »Halt dich da raus«, zischte einer, »sonst landest du im Schizo oder im Isolator.«
    Zwei Minuten später das Geräusch von polternden Stiefeln, der Holzboden begann zu schwingen. Zwanzig Wachsoldaten strömten in die Näherei und trieben die Häftlinge mit Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten hinaus. Einer bekam den blanken Stahl in den Oberschenkel.
    An diesem Tag fiel die Arbeit aus, die Häftlinge versammelten sich in den Schlafräumen und diskutierten. Alexander erinnerte sich jetzt auch wieder, dass er Anatoli länger nicht mehr gesehen hatte. Schon zwei Wochen nicht. Aber das hatte gewöhnlich nichts zu sagen, denn als er in der Spezialzelle einsitzen musste, konnten die anderen ihn auch nicht sehen.
    »Hier läuft irgendeine Schweinerei ab«, fluchte Wanja. »Der arme Kerl. Wie alt war er?«
    »Neunzehn, glaube ich«, antwortete Alexander.
    »Was die mit ihm getan haben, liegt doch auf der Hand. Die Hände auf dem Rucken gefesselt, wie Mikola.«
    Anatoli war vergewaltigt worden, und zwar auf eine sehr brutale und entwürdigende Art, wie das Blut gezeigt hatte. Vergewaltigungen von meist jüngeren Strafgefangenen gehörten in den Lagern zur Tagesordnung. Als Täter kamen die Kapos in Frage, aber auch Mithäftlinge, die sich gut mit der Obrigkeit stellten, und das Wachpersonal. Viele von ihnen waren unverheiratet, und für sie gab es weit und breit keine Möglichkeit, ihre Triebe zu befriedigen, sich zu entladen.
    Eine gereizte Stimmung lastete in dem Schlafsaal. Zum einen waren die Strafgefangenen bedrückt, weil einer von ihnen umgebracht worden war, zum anderen staute sich von Sekunde zu Sekunde die Wut, und die Wut suchte

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