Der König von Sibirien (German Edition)
vier Peiniger anzustarren. Aber er sah keine Peiniger, nur Lieht und grelle Punkte. Seine rechte Hand tat weh, und der After brannte und schmerzte unbeschreiblich. Alexander, unvermittelt mit der schrecklichen Erinnerung an das Vorgefallene konfrontiert, sank nach hinten, drehte sich auf die Seite, zog die Beine an und schluchzte. Sein Körper war eine einzige Wunde, sein Empfinden nur noch Schmach. Wo bin ich, fragte er sich? In einem Krankenhaus? Auf der Sanitätsstation?
»Junge, wie geht es dir?«
Erst allmählich drangen Rassuls Worte zu Alexander durch. Vorsichtig sah er den Alten an, doch er konnte nicht antworten. Zwar öffnete sich sein Mund, aber er brachte keinen Ton über die Lippen.
»Fein, dass du wieder unter uns bist.« Rassul streichelte seine Hand. Alexander wollte zurückzucken, dann ließ er es geschehen.
»Gefangener Gautulin, wie fühlen Sie sich?«
Da sprach ihn jemand mit Sie an. Es dauerte einige Sekunden, bis Alexander merkte, dass er gemeint war. Zögernd drehte er den Kopf und sah in ein Frauengesicht. Die erste Frau seit mehr als einem halben Jahr. Schön sah sie aus, mit dem weißen Häubchen auf dem Kopf und dem hochgeschlossenen Kragen. Knallrot die Lippen, rot die Wangen und violett die Lider über dem hellblauen Glubschaugen. Abermals versuchte Alexander zu sprechen. Die Kranken Schwester hob seinen Kopf an und flösste ihm etwas Tee ein. Wie köstlich, so schön süß und warm dazu.
»Danke«, krächzte Alexander.
»Er hat die Sprache wieder gefunden«, freute sich Rassul, der mit seiner abgewetzten und verschmutzten Kleidung nicht in die hygienische Umgebung des Krankenzimmers passte.
»Lass dir Zeit, Alexander. Erhol´ dich. Du wirst sehen, alles wird wieder gut.«
So trostreich die Worte auch klangen, Rassul log. Nichts würde wieder gut werden, nichts mehr wie früher sein.
»Schwester, können Sie ihm noch etwas Tee holen?«
Alexander wollte keinen Tee. Aber bevor er noch protestieren konnte, sah er das Zwinkern in Rassuls Gesicht.
»Nenn um Himmels willen keine Namen«, warnte ihn der Alte, als sie allein waren. »Hast du verstanden?«
Obwohl Alexander nickte, fragte er: »Warum nicht? Es war Wolkow, der Brigadier. Und die anderen werde ich auch wiedererkennen.«
Rassuls Miene war an Eindringlichkeit nicht mehr zu überbieten. »Ein Name, und du bist tot.« Der Alte umklammerte seine Oberarme. »Du bist tot. Geht das in deinen Schädel?«
Die Krankenschwester kam zurück. Gebannt, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt, starrte Alexander auf die weiche, weiße Frauenhand mit dem abblätternden rosaroten Nagellack dicht vor seinem Gesicht, die in unnachahmlicher Anmut den Becher hielt. Gleich daneben war seine wie zum Vergleich: erdfarben, rissig, entzündet, voller Schwielen und mit schwarzen Rändern unter den Fingernägeln und unter der Haut
»Was ist mit meiner Hand?« fragte er, nachdem er getrunken hatte.
»Die bekommen wir schon wieder hin. Keine Sehnen verletzt, nur eine Ader. In sechs Wochen wird sie wieder in Ordnung sein.«
Alexander nickte teilnahmslos, als ginge ihn das nicht viel an.
»Die haben ganz schön über dich geflucht.« Spott hörte Alexander aus Rassuls Worten heraus. »Weil du so gestunken hast und sie dich zuerst einmal waschen mussten.«
Und als Alexander nicht reagierte: »Wenn Sie wüssten. Dabei bist du noch der sauberste von uns.« Rassuls Augen verschwanden zwischen den Lachfalten.
Dann musste der Alte gehen. Alexander wunderte sich, wieso man ihn überhaupt hatte herkommen lassen. Normalerweise war die Krankenstation eines Lagers ein geheiligter Bezirk, den Unautorisierte nicht betreten durften.
Alexander war allein. Mit den frischen Erinnerungen, die sich ausdehnten und alles andere verdrängten Er sah nur noch die Baracke, die vier Männer, das Messer und das höhnische Gesicht des Brigadiers. Unwillkürlich stöhnte er auf, weil er das Gefühl hatte, sie würden erneut in ihn eindringen.
Die Finger der linken Hand taten gleichfalls weh und fühlten sich steif an. Sie waren zwischen Tisch und Wand geraten, hatten jeden Stoß mitbekommen. Später, als Alexander seine geschwollenen Leisten betrachtete, sah er blaue Streifen und Blutergüsse, die von der Tischkante herrührten.
Die erste Nacht war schlimm. Eine Schwester entdeckte Alexander auf der Toilette, als er immer wieder seinen Hintern zu waschen versuchte. Die Infusionsflasche mit dem Schlauch hatte er einfach abgerissen. Beruhigend redete sie auf ihn
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