Der König von Sibirien (German Edition)
noch ein Jahr abzusitzen. Ihm gefalle es sehr gut hier, die Unterbringung sei ohne Tadel, die Behandlung zuvorkommend, er wisse überhaupt nicht, was er machen solle, wenn seine Strafe um sei.
Was wie das Protokollieren der Antwort aussah, war nur dazu gedacht, den armen Kerl später zur Rechenschaft zu ziehen.
»Sprechen Sie Deutsch?« fragte Alexander einen der Ausländer.
»Ja, es ist meine Muttersprache«, antwortete er. »Ich komme aus der Schweiz. Brechbuel, mein Name. Hans Brechbuel.«
»Können wir uns ohne Zeugen unterhalten?«
»Aber sicher doch. Ihnen geht es gut?«
»Bitte ohne Zeugen, aber mit Kamera und einem Mikrofon.«
»Und wo bitte?«
»Auf der Toilette.«
»Wie?«
»Sehen Sie denn nicht, wie wir beobachtet werden? Erkennen Sie nicht, dass unsere Hemden noch Bügelfalten haben? Und alles nach frischer Farbe riecht?«
Der Schweizer kam ins Grübeln. »Sie meinen ...«
»Die Wirklichkeit ist die Hölle.«
»Wann in der Toilette?«
»In genau einer Stunde.«
Alexander schlenderte davon. Pagodin quetschte sich neben ihn. »Was wollte der Ausländer?«
»Er sprach so einen seltsamen Dialekt, ich habe ihn nicht richtig verstanden.«
Pagodin entfernte sich wieder. Da er wusste, dass Alexander ausgezeichnet deutsch sprach und der Ausländer aus der Schweiz kam, reimte er sich einiges zusammen. Glücklicherweise gab es ja noch den treuen Türja, auch ein ehemaliger Wolgadeutscher.
Aber der, wenige Minuten später herbeizitiert, um sich mit dem Schweizer zu unterhalten, schüttelte nur den Kopf.
»Das ist nie und nimmer Deutsch, was der brabbelt. Nichts habe ich verstanden. Absolut nichts. Nur ch, ch, ch.«
Pagodin war beruhigt und ließ Alexander aus den Augen. Der hatte sich beeilt und in seiner Baracke einen Brief an Hellen Birringer in Düsseldorf geschrieben. Zwei Seiten, mehr Zeit war ihm nicht geblieben. Und mit diesem Brief machte er sich auf zur
Toilette. Dort wurde er Zeuge, wie geschickt Brechbuel vorging. Pagodin wurde von einem Kollegen interviewt, während er mit Alexander und einem Kameramann die Toilette aufsuchte. Ein weiterer Helfer des Roten Kreuzes stand derweil vor der Tür Wache.
Längst waren die neuen Baracken wieder abgebaut, die Waschräume und Toiletten weggeschafft, die Kantine und die Kleidungsstücke wieder einkassiert worden. Dies geschah noch am gleichen Tag, an dem die Schweizer abgereist waren.
Mittlerweile hatte man auf der Baustelle damit begonnen, die Gräben mit Beton zu füllen. Manche der Gefangenen bearbeiteten, da es an Schaufeln und noch mehr an Handschuhen mangelte, den Beton mit bloßen Händen. Bereits in der darauffolgenden Nacht schrien sie vor Schmerzen, denn der Zement hatte die Haut angefressen, die Finger anschwellen und aufplatzen lassen. Aber blutende, pochende und eiternde Wunden waren noch längst kein Grund, die Krankenstation aufzusuchen.
Nach dem Fundament folgten die Zwischenräume, der spätere Boden für die neue Halle. Dazu legte man zuerst auf eine Filterschicht aus Schotter und Sand eine Lage Stahlmatten - der Beton sollte nachher nicht reißen. Und die Matten verteilte ein kleiner mobiler Kran mit Gummireifen, den man hinten beschwert hatte, damit er nicht durch die Last überkippte.
Zuerst dachten die Arbeiter, es mache sich jemand einen Scherz. Baumelte doch tatsächlich einer von ihnen hoch oben in der Luft an den Matten. Dann jedoch stutzte der Kranführer, als er auf die seltene Fracht aufmerksam gemacht wurde, denn von seinem Standpunkt aus war nichts zu sehen gewesen. Als er die Matten wieder auf die Erde abließ, fanden die Zuschauenden die Situation überhaupt nicht mehr lustig. Da hing doch einer an dem verrosteten Eisengeflecht, und zwar mit einem Stück Draht um den Hals. Lang und dick streckte er ihnen die Zunge entgegen, der Kopf war angeschwollen und blaurot angelaufen, die Augen weit aufgerissen und hervorgequollen.
Als der Schlächter näher kam, riss er die Augen genauso auf, auch sein Kopf lief blaurot an. Und er begann laut zu fluchen. Aber dann verstummte seine Stimme - er hatte den Toten erkannt. Aus den Augenwinkeln schielte er zu Alexander hinüber, aber der arbeitete am anderen Ende und hatte von alledem nichts mitbekommen.
»Mensch, der riecht ja nach Wodka«, moserte Valentjuk, ein Weißrusse, der dein Strangulierten am nächsten stand. »muss einiges gesoffen haben «
Die Strafgefangenen traten hinzu, einige von ihnen schlossen die Augen und vergaßen die Situation. Zu verführerisch war
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