Der König von Sibirien (German Edition)
bewunderten die Tischtennisplatte wie ein Weltwunder. Die meisten von ihnen hatten keine Ahnung, wozu das grüne Rechteck mit den weiß aufgemalten Linien gut war, bis zwei Soldaten es ihnen mehr oder weniger gekonnt demonstrierten.
Als die Ungewissheit der Inhaftierten nicht mehr gesteigert werden konnte, kam das überraschende Kommando, jeweils zu sechst in die neuen Baracken umzuziehen.
»Haben wir irgendeinen Krieg gewonnen?« scherzte jemand. Die Verblüffung der ausgemergelten und unterernährten Männer nahm noch zu, als sie an diesem Abend ihr Essen in Empfang nahmen.
»Jetzt wollen sie uns vergiften«, meinte' Semlja, der Holzdieb. »Fleisch gibt es und richtige Kartoffeln. Und Gemüse.«
Semlja, dem Alexander längst verziehen hatte, er war damals gezwungen worden, ihn hinter den Waschraum zu locken, beäugte misstrauisch das wohlduftende Essen.
Zu allem Überfluss durften sie auch noch an sauberen Tischen sitzen, mit blitzendem Besteck hantieren und aus Gläsern trinken. Der letzte Wunsch wurde ihnen erfüllt, wie vor einer Hinrichtung. Einer der Gefangenen spuckte sogar den ersten Bissen aus, so ungewohnt war für ihn der Geschmack des Fleisches.
Der Höhepunkt der Überraschung war am nächsten Tag die Einkleidung. Neue Hemden, Hosen, Jacken, Strümpfe und Schuhe gab es, dazu einen Regenumhang und Zahnbürsten und Seife. Besonders die Zahnbürsten wurden kritisch beäugt, denn mancher hatte so ein Borstending zum ersten Mal in den Händen.
»Und morgen entlassen sie uns alle.«
Aber vorher musste jeder in die neue Dusche und sich von Kopf bis Fuß abschrubben. Erst nach Begutachtung durch den Lagerarzt, der sogar auf das Sehwarze unter den Fingernägeln achtete, war den Gefangenen erlaubt, die neuen Hemden anzuziehen und sich in die frisch bezogenen betten zu legen.
Am kommenden Morgen kein Wecken, keine Arbeit, nichts. Unschlüssig versammelten sich die Männer vor den Baracken und diskutierten. Plötzlich fuhr ein Geländewagen vor. Ein Offizier, den sie bisher noch nicht gesehen hatten, stieg aus, schnappte sich ein Mikrofon und verkündete über Lautsprecher, das Lager erhalte Besuch aus dem Ausland, genauer gesagt aus der Schweiz. Das Rote Kreuz - jeder kenne ja wohl diese humanitäre Einrichtung - wolle sich überzeugen, wie gut die sowjetischen Strafgefangenen behandelt würden.
Jetzt wussten alle, was der eigentliche Zweck war: dem Ausland Sand in die Augen zu streuen und darauf zu verweisen, was man alles für die Inhaftierten tat. Möglicherweise waren Berichte nach draußen gedrungen, so vermutete Alexander, die die unmenschlichen Praktiken in diesen Lagern anprangerten. Um der Kritik zu begegnen, sahen sich die Sowjets gezwungen, die Weltöffentlichkeit, vor der das riesige Land gut dastehen wollte, vom Gegenteil zu überzeugen. Sozialismus als politische Weltreligion und inhumane Straflager vertragen sich nun einmal nicht.
Schöner hätte das Wetter nicht sein können, als eine Autokarawane, dick war an den Seiten das rote Kreuz auf weißem Untergrund aufgemalt, die neuen Unterkünfte ansteuerte. Nicht aus südlicher Richtung kamen sie, dann hätte man das alte Lager durchqueren müssen, sondern nach einem gebührenden Umweg von Norden, und zwar über eine extra planierte Straße. Die Fahrzeuge hielten an, eine Kamera wurde aufgebaut und begann, die Insassen zu filmen. Die Gefangenen wussten nicht recht, wie sie sich verhalten sollten, und vollführten linkische Bewegungen. Einer spreizte später beim Essen ständig den kleinen Finger ab. Wo er das wohl gesehen hatte? Keinen der Häftlinge hörte man schlürfen, rülpsen oder schmatzen.
Pagodin scharwenzelte mit dem strahlendsten Gesicht des Landes um die Gefangenen herum und unterhielt sich so freundlich mit ihnen, dass später die Betrachter des Films nicht würden unterscheiden können, wer hier eingesperrt war und wer Aufpasser.
Zur Freude aller hatte man Bänke und Tische an die frische Luft gestellt, damit das Picknick auch voll zur Geltung kam. Pagodin richtete gesülzte Worte an die Besucher und lud sie ein, sich ein genaues Bild von dem Lager zu machen. Jeden könne man fragen, jeder dürfe den ausländischen Gästen sagen, was ihn bedrücke.
Nun, so einfach war das nicht, denn der Dolmetscher, ein Russe, übersetzte so, wie man es ihm von Moskau vorgegeben hatte. Ein Häftling wollte verdeutlichen, dies alles sei nur Show, nur Zirkus. Im Englischen, auf das man sich geeinigt hatte, klang das anders: Der Mann habe nur
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