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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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auch sagen sollen?
    »Gautulin muss verschwinden. Und Sie auch. Der ganze Lagerbezirk F wird nach Westsibirien verlegt. Erdgasbohrung.«
    »Kommt das Rote Kreuz dort nicht hin?«
    »Doch, Genosse. Aber die Gasförderung wird erst noch aufgebaut, und dabei kann es schon mal zu einem Unfall kommen. Einem ... eindeutigen Unfall. Sie verstehen?«
    Der Oberst quittierte Pagodins Zustimmung mit einem Nicken und konnte nicht ahnen, dass Alexander Zeuge des Gesprächs war.
    »Aber er hat eine besondere Vorsehung.«
    »Quatsch. Es gibt keine Vorsehung.« Ein Stuhl wurde gerückt. Dann Schritte. Nach wenigen Sekunden fragte der Oberst: »Welche Vorsehung soll das denn sein?«
    Pagodin führte die vier Todesfälle auf, und er schwor Stein auf Bein, Alexander Gautulin hätte nie und nimmer der Täter sein können. In keinem einzigen Fall sei er in der Nähe gewesen. »Aber zufällig hat es all die Männer getroffen, die ihn im Waschraum vergewaltigt und so zugerichtet haben.«
    »Quatsch«, wiederholte der Oberst. »In Westsibirien gibt es keine Vorsehung, so weit nach Norden verläuft sie sich nicht.«
    »Was ist mit Gautulin?«
    »Er muss vorerst am Leben bleiben. Zumindest so lange, bis das Rote Kreuz ihn wieder gesehen hat. Aber wie, das überlasse ich Ihrer Phantasie.«

    Alexander lernte den Isolator kennen, verharmlost auch Karzer genannt oder Eiskeller, wegen der fehlenden Heizung. Aber jetzt, im Spätsommer, war es dort warm genug. Noch brauchte er keine Heizung, allerdings war es sehr feucht, und es gab kein Bett, keinen Stuhl, keinen Tisch, keinen Eimer mit Wasser und keine Toilette. Vier Wände aus unverputzten Ziegelsteinen, in denen eine Metalltür eingelassen war mit einem Guckloch, oben eine Decke aus Beton und als Boden gestampfte Erde. Es war dunkel in diesem Verlies, lediglich an den Türritzen schimmerte es hell. Allein daran konnte Alexander erkennen, ob es Tag oder Nacht war.
    Jeden Morgen stellte man einen großen Becher mit Wasser in sein Verlies, das war alles. Kein Brot, nur Wasser, abgestandenes Wasser.
    Anschließend hatte Alexander den ganzen Tag Zeit zu überlegen. Und die ganze Nacht. So abgeschottet von der Außenwelt, verlor er jegliches Zeitgefühl. Das einzige, was er tun konnte, war, sich in Gedanken mit Dingen zu beschäftigen, die ihm wichtig erschienen.
    Um nicht wahnsinnig zu werden, ließ er der Reihe nach alle Bekannten aufmarschieren, von der Kindheit bis in die Gegenwart, vom Nachbarjungen, mit dem er in Omsk gespielt und dessen zwei Jahre ältere Schwester ihm hinter ihrem Wohnblock in einem Gebüsch den Unterschied zwischen Mädchen und Jungen gezeigt hatte. Danach kam die Schulzeit dran, der allsommerliche Ernteeinsatz, die Kartoffelfeuer im Herbst, das Treffen der Komsomolzen. Jeder sagte etwas zu ihm, erinnerte ihn an eine längst vergangene Episode, und Alexander verbot ihnen allen, ihn zu bedauern.
    Das Militär: Seine Stubenkollegen traten an und schwärmten vom ersten Besäufnis. »Was waren wir alle blau. Und hast du die Mädchen gesehen, wie sie geguckt haben?«
    Eines dieser Mädchen ging mit Alexander ins Bett, seine erste Frau. Er war damals neunzehn. Seine Kameraden hatten dieses Erlebnis zumindest ihren Worten nach längst hinter sich.
    Die Militärzeit ging zu Ende, das Studium begann, der Umzug von Omsk nach Moskau. Die ersten Klausuren, Alexander war ein guter Student, und seine Professoren waren stolz auf ihn. Er lernte Tanja kennen, eine Kommilitonin, mit der er für die Prüfungen lernen wollte. Aber Tanja wollte nicht nur lernen. Sie hatte viel Erfahrung mit Männern, wie Alexander an ihren besonderen Fertigkeiten erkennen konnte. Sie bereitete ihm schöne Stunden, sehr zum Leidwesen der anderen Studenten im Wohnheim der Lomonossow-Universität, die, neidisch oder tatsächlich gestört, gegen die Wand klopften und um Ruhe baten.
    Mit Tanja war Alexander sehr leichtsinnig gewesen. Er hatte sie mit auf sein Zimmer genommen, obwohl Damenbesuch streng untersagt war. Einige der Mitbewohner schränkte dieses Verbot in ihrer sexuellen Freiheit allerdings nicht ein. Im Gegenteil, sie verstanden es als Freibrief, sich umso intensiver dem gleichen Geschlecht zuzuwenden.
    Hellen meldete sich, und die Erinnerung an sie war belastend und schön zugleich. Alexander hörte sich aufstöhnen, denn die Vorstellungen, die in seinem Kopf abliefen, schmerzten ungemein, weil sie sich nie verwirklichen lassen würden. Als gelte es, Hellen aus der Enge des Isolators herauszuhalten, sie

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