Der König von Sibirien (German Edition)
nicht mit der beschämenden, deprimierenden
Realität in Berührung zu bringen, wechselte Alexander zu Rassul, diesem treuen und liebenswerten Gefährten.
»Du kasachischer Dickschädel, ich habe es dir versprochen. Und ich halte mich daran, ich will leben.«
Rassul lächelte und war zufrieden.
Aber Alexander zweifelte nach einigen Tagen an der Umsetzung seines Versprechens. Nur Wasser, kein Brot, nichts. Er tröstete sich, dieser Umstand habe auch einen Vorteil. Seit zwei Tagen war sein Darm leer, er musste nur noch Wasser lassen. Der Gestank in der Zelle war deshalb einigermaßen erträglich. Möglicherweise hatte er sich aber auch bereits daran gewöhnt.
Mit einer Entwicklung war Alexander zufrieden: Er ertrug die Schmerzen und jammerte nicht, obwohl sein Oberkörper eine einzige Wunde war. Schmerzen waren ein Zeichen des Lebens - er ignorierte sie nicht, aber er fühlte sich gut, weil sie ihm trotz aller Pein nicht entwürdigende Verhaltensweisen diktierten, ihn nicht unterkriegten. Alexander war inzwischen so weit, dass er seinen Körper dem Verstand und der Vernunft unterordnete. Oder waren es Wut und Hass?
»Und genau daran wirst du zerbrechen, Pagodin«, knurrte er. »Du alter, verbohrter Kommunistenschädel kennst nur Unterdrückung, Schläge, um den Willen deiner Untergebenen zu brechen. Das allein bringt dir Befriedigung. Aber nicht durch mich.«
Pagodin besuchte ihn und war von dem, was er sah, sehr angetan. Nicht zufrieden war er mit Alexanders Augen, die immer noch eine ungeahnte Kraft ausstrahlten. Und weil dem so war, verlängerte er die Wasserernährung um eine weitere Woche.
Alexander hätte seine Haft abkürzen können, wenn er gewinselt und um Gnade gebettelt hätte. Vielleicht wäre es dazu auch gekommen, hätte er nicht zufällig aus dem Nebenraum die Anweisung gehört, er müsse am Leben bleiben. Und dieses Wissen verlieh ihm Mut und Zuversicht.
Mut und Zuversicht allein genügten aber nicht, um zu überleben und um Pagodin Paroli zu bieten, einem Pagodin, der damit rechnete, dass Alexander in spätestens einer Woche ein menschliches Wrack sein würde.
Aber Alexander wollte kein Wrack sein. Bekam er nur Wasser, könnte es der Natschalnik-Olp jedoch schaffen, ihn dazu zu machen. Deshalb machte er sich gleich auf die Jagd.
Schon in den vergangenen Tagen und Nächten waren ihm die Viecher aufgefallen, die behände über Beine und Oberkörper huschten. Bestimmt lauerten sie auf Beute. Alexander tastete die Wand ab, denn irgendwo mussten die Ratten doch herkommen. Aber er fand keine Ritze, nichts. Erst als er auch den Boden untersuchte, entdeckte er Öffnungen, die groß genug waren, sie durchschlüpfen zu lassen. Zwei Stunden später hatte er eines der wabbeligen Tiere gefangen. Zuerst drehte er ihm den Hals um, riss den Kopf ab und biss hinein. Köstlich das warme Blut, leider war das Fleisch etwas zäh, denn seine Zähne waren feste Nahrung nicht mehr gewohnt.
Zweimal am Tag, wie Alexander an den Lichtritzen um die Tür erkennen konnte, machte er sich erfolgreich auf Nahrungssuche. Doch plötzlich war der Vorrat erschöpft. So lange er vor dem Loch auch auf der Lauer Tag, keines der Viecher traute sich mehr in sein Verlies.
Zur Aufmunterung ließ er den Juden Vadim Sonnberg aus dem Lager Perm 35 von seinem Land erzählen und dem Leid, das man seinem Volk seit Jahrtausenden zufügte. Dadurch kam Alexander das eigene Schicksal nicht mehr ganz so schlimm vor.
Als die Wirkung nachließ, las ihm der orthodoxe Priester Dimitri Warischenko aus der Bibel vor, von Sodom und Gomorrha. Und die Passage: Mein ist die Rache, sprach der Herr. Alexander war anderer Auffassung. Er wollte die Rache dem Herrn nicht vorenthalten, aber einen Teil für sich abzweigen. Ich brauche die Rache, um zu leben. Verstehst du?
Mikola am Zaun, die Metallspitze durch den Schädel gerammt. Anatoli gefesselt und tot am Boden, vergewaltigt. Das waren seine letzten Erinnerungen. Allmählich wurde er schläfrig und apathisch. Als Alexander wenige Tage später bereit war, sich aufzugeben - er sah die Unsinnigkeit des Unterfangens ein, das Rassul gegebene Versprechen einzulösen - wurde die Zellentür geöffnet. Alexander blinzelte, vom grellen Licht geblendet.
Pagodin stand in der Öffnung. »Na, lebst du noch?«
»Muss ich nicht am Leben bleiben?«
»Wieso?«
»Sonst hättest du mich doch schon längst erschossen.«
Alexanders Augen hatten sich an die Helligkeit gewöhnt, und so bemerkte er, wie Pagodin
Weitere Kostenlose Bücher