Der König von Sibirien (German Edition)
zurückzuckte, weil er ihn geduzt und das »Jawohl, Genosse Natschalnik-Olp« weggelassen hatte.
»Raus mit dir!«
Mühsam erhob sich Alexander. Schwankend ging er auf Pagodin zu und spuckte ihm einen Rattenknochen ins Gesicht. In den letzten Tagen hatte er ausgiebig Zeit gehabt, auf dem Knochen herumzulutschen.
Pagodins Hand zuckte zur Hüfte, wo in einem blankpolierten Lederhalfter seine Pistole steckte.
Aber Alexander stapfte einfach unbeeindruckt weiter. Wieder in seiner gewohnten Baracke, wurde er von den Mithäftlingen wie eine Erscheinung bestaunt.
»Wir dachten, du seiest tot.«
Und dann kümmerten sie sich um ihn. Sie wuschen ihn, gaben ihm was zu essen, brachten warmen, aromatischen Tee und trieben irgendwo sogar etwas Fleisch auf.
Klimkow, der Elefant, kam ihn am nächsten Tag besuchen. »Alle Achtung. Inzwischen kann ich deine Kraft in etwa einschätzen.«
Alexander sah ihn an. Er versuchte ein Lächeln aufzusetzen, aber es missglückte.
»Klimkow, kannst du mir eine Zange besorgen? Eine kleine, vorne spitz, mit der man Drähte zusammendreht.«
»Kein Problem.«
»Und einen Mann, der damit umzugehen versteht.«
»Bis wann?«
»Sofort.«
Eine Stunde später machte sich ein Strafgefangener an Alexanders Mund zu schaffen. Erst wackelte er, dann knirschte es, als die Greifer aus Metall den Backenzahn umschlossen. Mit einem kräftigen Ruck wurde der vereiterte Zahn gezogen. Alexander hatte bei der schmerzhaften Prozedur keine Miene verzogen.
»Warum bist du nicht in die Krankenstation gegangen?«
Alexander spülte den Mund mit Wasser aus und spuckte Blut in einen Eimer. »Weil ich Pagodin diesen Triumph nicht gönnte.«
»Er will dich zerbrechen.«
»Genau, Klimkow. Alles, was jetzt noch zwischen ihm und mir abläuft, ist ein Kampf: Pagodin gegen mich. Leider hat er schlechte Karten, denn er muss mich am Leben erhalten.«
Klimkow, der mit den letzten Worten nichts anzufangen wusste, gab sich skeptisch, »Ich weiß nicht, ob du das durchstehst. So, wie ich dich hier vor mir sehe, fühlst du dich ihm gegenüber überlegen. Was aber ist, wenn du dich täuschst? Dein Dickschädel dir den Blick für die Realität trübt?«
»Dann möchte ich bitte neben Rassul begraben werden.«
Alexander erfuhr von seinen Mitsträflingen, dass sich Klimkow sehr für ihn eingesetzt hatte. Zum Schluss habe er Pagodin sogar offen gedroht, und nur deshalb, so seine Kumpane, habe der Natschalnik-Olp ihn aus dem Isolator gelassen.
Unversehens erschrak Alexander. Was ist, wenn Pagodins Starrsinn genauso groß ist wie meiner? Es ihm gleichgültig ist, ob ich sterbe oder nicht? Hauptsache, er hat sich durchgesetzt und sich vor sich selbst bewiesen. So, wie ich vor mir.
Die Verlegung. Alexander war inzwischen wieder einigermaßen zu Kräften gekommen. Alle Insassen seiner Baracke, immerhin fünfundzwanzig Personen, wurden in einen bananenförmigen Hubschrauber verfrachtet, der abseits des Lagers landete. Anschließend flogen sie vier Stunden nach Nordosten. Obwohl ein Strafgefangener an den anderen gekettet war, empfand Alexander, weil er sich nicht von Stacheldraht umgeben sah, seit langer Zeit: wieder mal das Gefühl von Freiheit;
Unter ihnen huschten anfangs Berge dahin, die zu Hügeln wurden, schließlich nur noch flaches Gelände. Eine grüne Ebene, so weit das Auge reichte. Nach zwei Stunden kam Wasser hinzu, zuerst linienhaft als Flüsse und Zubringer, dann braun und grau und unübersehbar der breite, träge Ob, der ohne Strömung zu sein schien. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft kleine Seen, die größer wurden und sich mit dem Strom zu einem Meer verbündeten. Und mitten in dieser Wasserwelt schwammen Inseln.
Der Hubschrauber schwenkte etwas mehr nach Norden, die Anzahl der grünen Inseln, flach wie Teppiche und Zuflucht für viele Vögel, nahm zu. Eine steuerte der Pilot an, die über einen schmalen Steg mit einer Landzunge verbunden war, denn weiter im Osten hörte die Wasserfläche auf.
Schon aus der Luft war zu erkennen, dass Baumaterialien und Ausrüstungsgegenstände herumlagen. Nachdem der Hubschrauber auf einer präparierten Fläche gelandet war, stiegen die Häftlinge aus und betraten ihre neue Heimat. Damit sie sich auch wirklich wie zu Hause fühlten, wurden sie gleich von Wachsoldaten umzingelt, bevor man ihnen für einige Stunden die Fesseln abnahm.
Am Abend war der Umzug abgeschlossen. Alle zweihundertzwölf Insassen des Lagerbezirks F hatte man abgesetzt, dazu gut hundert Mann
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