Der König von Sibirien (German Edition)
Hubschraubers auf. Er blickte unter dem Rand der Plane dem Geräusch entgegen und sah einen Helikopter in den Farben des Militärs. Aber das besagte nichts, fast alle hatten den grünoliven Militäranstrich. In weniger als hundert Meter Abstand flog der Hubschrauber an ihm vorbei, ohne Notiz von ihm zu nehmen. Außerdem war es nur ein kleiner mit einer Kugel aus Glas, in dem höchstens vier Personen Platz fanden, und nicht die große Banane, die sogar Lkw transportieren konnte.
Wie gut die Tarnplane war, davon konnte sich Alexander immer wieder überzeugen. Entfernte er sich wenige Schritte von seinem Lager, war sie zwischen dem Busch-und Strauchwerk nur noch zu erkennen, wenn man wusste, wo sie sich befand.
Nach dieser Aufregung schlief Alexander nicht mehr ein, und noch in der Nacht ging er weiter. Da er sich immer in unmittelbarer Nähe eines Flusses hielt, hatte er genügend Wasser zum Trinken. Das Brot war ihm allerdings schon vor einigen Tagen ausgegangen, auch die Wurst. Seitdem ernährte er sich von Fischen, die er gegen Abend, also kurz nach dem Aufstehen, mit einem angespitzten Holzstück harpunierte. Anfangs misslangen all seine Versuche, bis er sich wieder an die Physik und das Brechungsverhältnis von Luft und Wasser erinnerte.
Mit einem Messer zerlegte er die Fische und briet sie über dem offenen Feuer. Manchmal steckte er ihnen auch bloß einen Stock in das Maul, das hatte er als Kind auf einem Fest in Omsk gesehen. Kurz vor dem Abmarsch verwischte er seine Spuren, die Überreste des Feuers und die Gräten vergrub er.
Das Gefühl für die Zeit hatte Alexander mittlerweile verloren und auch, abgesehen von der Himmelsrichtung, jede Orientierung. Auf der Militärkarte schien es den Fluss, vielleicht ein Nebenfluss des Ob oder des Polui, nicht zu geben, dem er nun schon viele Kilometer folgte. In diesem völlig flachen Gebiet veränderten sie bestimmt jedes Jahr nach dem Hochwasser ihren Lauf, vermutete er. Der Sommer ging zur Neige, die Städte Kasym-Mys und Gorki, die irgendwo im Westen lagen, umging er großräumig. Sich streng an seine Vorgabe haltend, nur nach Norden zu wandern, hatte er einen anderen Fluss zu überqueren. Er entkleidete sich, rollte all seine Habseligkeiten in die wasserdichte Plane, bauschte sie wie zu einem kleinen Boot auf und stieß sie im kalten Wasser vor sich hier. Am anderen Ufer angekommen, wagte er, aus trocknem Reisig ein Feuer zu entfachen.
Irgendwann, seine Flucht aus dem Lager Tag inzwischen mindestens drei Wochen zurück, fühlte Alexander zum ersten Mal die Freiheit. Er spürte nicht mehr allgegenwärtig das gehetzte Gefühl in sich, das ihn antrieb und unruhig schlafen ließ. Er zuckte auch nicht mehr bei jedem Geräusch zusammen, denn mittlerweile musste er drei-oder vierhundert Kilometer hinter sich gebracht haben. Und in wenigen Tagen, so hoffte er, würden sie die Suche einstellen, falls das nicht schon geschehen war. Überzeugt war er nicht, aber die Ausrede half, sich etwas Mut zu machen.
Alexander wechselte von der Nacht-zur Tagwanderung und genoss es, sich in der weiten Landschaft zu bewegen, von der er bisher immer gedacht hatte, sie sei monoton. Er beobachtete Vögel auf ihrem Weg in den Süden, der Keilformation nach waren es Wildgänse. Aber um sicher zu sein, kannte er sich zu wenig aus.
Alexander bemühte sich, natürliche Zusammenhänge zu erkennen und zu begreifen. Hockte er sich auf den Boden, um zu rasten, dann betrachtete er das Gras, als sähe er es zum ersten Mal. Bei jedem Windstoß zitterte es, um sich wieder aufzurichten. Blies der Wind dagegen stetig, dann verharrten die gebeugten Halme, als verneigten sie sich vor der Urkraft.
Dieses Bild setzte Assoziationen frei. Damals, während er mit Rassul eine Zelle in dem Steinhaus teilte, hatte er im Fieber den Vorsatz gefasst: Sei wie eine Weide im Wind. Bieg dich, aber zerbrich nicht. Und wenn der Wind nachlässt, richte dich auf, denn so, wie der Wind nachlässt, wird die Kraft deiner Feinde nachlassen. Kurz darauf hatte er sich als homosexuell bezeichnet und dem Natschalnik-Olp den geforderten Text unterschieben.
»Pagodin, wie hat es wirklich in dir ausgesehen?«, murmelte er vor sich hin. »Wärst nicht auch du nur ein Grashalm im Wind?«
Alexander merkte, wie ihn die Natur mehr oder mehr beeinflusste. Weil er so lange unter Freiheitsentzug gelitten hatte, registrierte er nun Dinge, die ihn früher nicht interessierten oder ihm entgangen waren. Auf unerklärliche Weise faszinierte
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