Der König von Sibirien (German Edition)
Spitzhacken.
Die zum Greifen anschwellende Spannung entlud sich schlagartig, als eines Nachts Gewehrsalven die Ruhe störten. Schreie, Füßetrampeln in den Baracken, keuchende Aufseher und knappe Kommandos waren zu hören.
Klimkow weckte Alexander. »Es geht los. Zieh dich an.«
Alexander schlüpfte in die Stiefel und warf eine Jacke über.
»Ein Aufstand?«
»Schlimmer. Sie wollen ausbrechen.«
Wieder das Geknatter von Gewehren und zwischendurch erstickte Schreie, darunter einer im Todeskampf.
»Es sind mindestens fünfzig, die es versuchen werden«, raunte Klimkow Alexander zu, als er die Barackentür öffnete. »Und sie haben eine Chance, es zu schaffen. Viele der Wachsoldaten schlafen, etliche sind wie an jedem Wochenende weg zum Saufen. Pagodin kann seinen Leuten doch nicht alles verbieten.«
Draußen war die Hölle los. Hier ein Schatten, dort eine huschende Bewegung, und in der Nähe des Zauns zuckende Leiber auf dem Boden, von Kugeln zerfetzt. Männer liefen geduckt im Lager umher, andere schlichen mit Messern in den Händen auf die Wachtürme zu. Scheinwerfer irrten durch die Dunkelheit und wussten nicht, welche schrecklichen Szenen sie anstrahlen sollten.
Klimkow deutete nach Osten. »Dort, sie haben den Wachturm gestürmt. Jetzt sind sie draußen.«
Während Alexander noch unschlüssig war: »Komm, wir hauen auch ab.«
Klimkow zog Alexander einfach mit. Der verharrte, rannte wieder in die Baracke und kam mit einer kleinen Schachtel zurück, die er unter dem Hemd verstaute.
»Was ist das?«
»Ach nichts«, entgegnete Alexander, denn für Klimkow war es bestimmt ohne Bedeutung. Was sollte er auch mit der Haarsträhne anfangen, die Alexander dem toten Rassul abgeschnitten hatte?
Sie kamen an der Kantine vorbei, die Tür war aufgebrochen. Hastig stopften sie sich alles Eßbare unter die Jacke und in einen Mehlsack, auch zwei Teller, einen kleinen Topf und Eßbesteck aus Aluminium, dann hetzten sie auf den Zaun zu.
Plötzlich hörten sie neben sich ein Stöhnen. Alexander bückte sich und sah in das schmerzverzerrte Gesicht von Pagodin. Mitten in der Brust steckte eine Spitzhacke.
»Mich hat es erwischt.«
»Ich bringe dich zur Krankenstation. Die nehmen dir das Ding wieder heraus.«
Pagodins Stimme war sehr leise. »Nicht mehr nötig. Sie haben mir außerdem mit ihren Messern den ganzen Leib aufgeschlitzt. Nutz die Gelegenheit und verschwinde. Aber nicht nach Süden. Hier, nimm meinen Ausweis.«
Alexander steckte den Ausweis ein.
»Los, in meine Unterkunft. Da gibt es Pläne, und in meinem Schreibtisch ist eine Pistole. Die wirst du brauchen. Nicht nach Süden, sage ich dir.«
Sie drückten sich die Hände. Zuerst kräftig, dann erschlafften Pagodins Finger. Er war tot.
Keine Sekunde zu früh erreichten sie die Wohnräume.
Im Lager flammten zusätzliche Scheinwerfer auf, erneut Salven von Kalaschnikows, wieder Schreie, dann war Ruhe. Die Wachmannschaft, verstärkt um die Heimkehrer, übernahm das Kommando.
Ohne Licht zu machen, durchsuchten Alexander und Klimkow die Schränke und den Schreibtisch des Natschalnik. Alexander entdeckte die Pistole und eine Schachtel mit Munition, beides steckte er ein. Klimkow trat mit Landkarten zum Fenster und besah sie sich. »Genau die brauchen wir«, knurrte er zufrieden.
In den Nebenräumen schnappte sich Alexander ein paar Stiefel und einen Regenumhang. Kurz bevor sie hinausstürmten, rollte Klimkow eine Plane zusammen und zerstörte das Funkgerät.
II
YOKOLA
F reiheit. Nur ein Wort und doch von einer Bedeutung, die Alexander mit Schrecken erfüllte: weil er es nicht fassen konnte. Er war frei, der Traum vieler Nächte in Erfüllung gegangen. War er wirklich frei? Die Nacht gewährte ihnen noch vier Stunden Schutz. Trotz Pagodins Warnung wählten sie den Weg nach Süden, um die Verfolger zu verwirren. Dass man sie suchen würde, war ihnen so klar wie das Anbrechen des kommenden Tages. Der Staat konnte es sich nicht leisten, ausgebrochene Strafgefangene entkommen zu lassen, das kratzte an seiner Reputation und würde Nachahmer finden.
Anfangs war es nur ein grauer Streifen im Osten, der stetig heller wurde. Inzwischen hatten sie vielleicht 15 Kilometer hinter sich gebracht, immer parallel zur Bahnlinie, die sie gebaut hatten. Im Morgengrauen bemerkten sie andere Gestalten wie huschende Schatten, die in die gleiche Richtung hetzten. Zehn oder zwölf waren es, ein Teil der Entkommenen.
»Was meinst du, wie viele es geschafft haben?«
»Bis
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