Der König von Sibirien (German Edition)
ihn die Konsistenz des feuchten Bodens, der wegen der hohen Bestandteile an Schluff und Ton von dunkler, fast schwarzer Farbe und erstaunlicher Plastizität war. Oft formte Alexander kleine Kügelchen oder abstrakte Gebilde, gab ihnen Namen und redete mit ihnen. Manchmal schnupperte er am Boden, der überhaupt nicht modrig oder nach abgestandenem Wasser roch. Es sei denn, er war feucht. Alexander grub Löcher und störte dadurch die Bewohner. Am ungewohnten Tageslicht kringelten sich die Würmer auf der Suche nach einer kleinen Erdspalte, Mäuse hoppelten unbeholfen über das Gras. Mücken, überall Mücken. Noch hatten sie einige Tage, bis der erste Frost einsetzte, der sie dahinraffte. Wie Strafgefangene im Lager, kam es Alexander in den Sinn. Aber ein Sommer in der Tundra genügte, um eine Unzahl von Eiern zu legen, aus denen im Jahr darauf wieder die neue Generation schlüpfte.
Alexander sah an diesem Tag zum letzten Mal für viele Monate eine Libelle, die am Ufer von einem Stein zum anderen tanzte. Abgehackt und eckig bewegte sich das Insekt, verharrte sekundenlang mit schillernden Flügelschlägen auf der Stelle, um dann abrupt seine Position zu verändern.
Die seltsamen Steine hatte er bereits gestern weiter flussaufwärts bemerkt: rund und abgeschliffen vom vielen Wasser. Aber warum ausgerechnet hier? Wieso nicht schon unterwegs, weiter am Oberlauf und damit näher zu den tausend und mehr Kilometer entfernten Bergen, was zu verstehen wäre? Er wusste es nicht, dafür aber schien jeder der Rundlinge andere Bewohner zu
haben.
Nahe an der Feuchtigkeit hatten sich Algen festgesetzt, sattgrün und stumpf in der Farbe. Die sanft geneigte Uferböschung hinauf und nur während des Hochwassers überspült, schienen es Flechten zu sein, meist gelbbraun. Sie bildeten seltsame Muster, kleine Kreise und Erhebungen, schimmerten im Gegenlicht in den unterschiedlichsten Tönen, und bei Sonnenschein glitzerten sie sogar.
Nach weiteren Stunden sah er immer mehr Steine, jetzt auch gleich neben dem Fluss. Sie waren zu ringförmigen Gebilden angeordnet, als hätte sich jemand einen Spaß gemacht, Alexander zu verwirren. Die ganze Niederung war von einem Muster übersät, und dazwischen wuchs Moos in allen Farbnuancen: weiß, orangefarben, rötlich und sogar mit einem Blaustich.
Manchmal Tag Alexander auf dem Rücken und ertappte sich, wie er aus der Wolkenformation Gesichter oder Gegenstände herauszulesen versuchte. Dabei vergaß er die Zeit, bis er irgendwann aufschreckte und sich wieder zu orientieren suchte. Entdeckte er keinen Stacheldrahtzaun, war er beruhigt und ließ seine Bekannten antreten, um mit ihnen zu diskutieren. Klimkow gab ihm immer einen Rat, wie er sich zu verhalten hatte, Rassul war für den Lebenswillen zuständig. Und Aljoscha, der das verbotene Buch geschrieben hatte, war ein Mahnmal, die Freiheit nicht wieder aufs Spiel zu setzen.
Hellen klar vor sich zu sehen, wie in den ersten Wochen in Moskau und auch noch später in Perm, gelang ihm nicht. Was er konnte, war, aus der Erinnerung heraus gewisse Szenen und Abläufe nachzuvollziehen: wie sie in der Universität aufeinander zugestolpert waren, ihr Spaziergang an der Moskwa, die Wachablösung vor dem Lenin-Mausoleum, die Miliz im Einsatz, als sie die Betrunkenen einsammelte, um die Hauptstadt für die wenigen Touristen und Fremden sauber zuhalten. Sozialismus und Alkohol, das war wie Engel und Sünde. Oder besser Teufel und Weihwasser?
Angesichts der Unendlichkeit der arktischen Breiten fielen nach und nach jedes Gewicht und jede Gewichtigkeit, was seine Vergangenheit betraf, von ihm ab wie nutzloser Ballast. Dann hatte er das Gefühl, zu schweben. War er wieder gelandet, kam es ihm vor, als versinke sein Körper im Boden. Tiefer und tiefer, um ihn herum wuchsen die Erdränder in die Höhe, wie bei einem Grab. Die Luft wurde ihm knapp, Druck lastete auf seiner Brust.
Alexander hatte Phasen, in denen er für Minuten die Atemzüge zahlte, sie auf Stunde. Tag und Woche umrechnete, um der Freiheit eine Dimension zuzuweisen. Sechzehn Atemzüge in der Minute, in einem Monat demnach ungefähr eine dreiviertel Million. Und mit jedem Fin-und Ausatmen wuchs seine Freiheit, wurde größer und größer. Dann muss ich in Gefangenschaft ja mehr als 2 Millionen ... Als er die Zahl vor Augen hatte, hörte er mit dem Zählen auf.
Oft litt er unter Schlafstörungen, weil er sich im Schlaf hilflos und anfällig fühlte, als könnte jemand seinen neu gewonnenen
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