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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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Zustand der Freiheit zu verändern suchen. Deshalb Tag er lange wach, blickte zum Himmel hoch und bestaunte die Sterne. Klein und unwichtig kam er sich vor, zu unbedeutend, als dass sich einer aufregte, wenn es ihn nicht mehr gäbe. Niemand würde ihm eine Träne nachweinen. Wenn er stürbe, dann wie eine Kerze im Wand: vielleicht noch etwas Rauch, und das war es dann auch schon. Diese Erkenntnis stürzte ihn in eine dumpfe Traurigkeit, und sein Leben kam ihm sinnlos vor.

    Der erste Frost überraschte ihn. Alexander dachte, er hätte noch zwei Wochen oder mehr, aber in dieser Nacht fror er erbärmlich und führte stundenlange Selbstgespräche. Das tat er auch sonst, um nicht das Gefühl der Einsamkeit aufkommen zu lassen, sich zu beschäftigen und die Monotonie seiner Schiritte zu kaschieren. Er diskutierte erregt mit ehemaligen Kommilitonen, wenn es um ein Problem aus dem Bergbau ging. Oder er versuchte seine Mutter zu besänftigen, als er wieder einmal Süßigkeiten - in seiner Kindheit gab es mit Honig überzogene Äpfel, an Weihnachten sogar manchmal welche in Schokolade getaucht - genascht hatte. Naschen war allerdings nicht öfter als vier-oder fünfmal im Jahr möglich, denn zu mehr reichte das Geld nicht. Zudem verführte das dürftige Angebot in den Omsker Geschäften auch nicht sonderlich dazu.
    Eines bedrückte Alexander. Bei allen Bildern, die er aufzubauen und zurückzurufen versuchte, bei allen Zwiegesprächen kam eine Person sehr selten vor: sein Vater. An ihn war die Erinnerung blass, fast nicht vorhanden. Alexander war zwölf, als der Vater starb. Die rauen, aufgeplatzten Hände hatte er vor Augen, ähnlich wie seine, als er im Lager 60/61 unter Tage arbeitete, und die dicken Schwielen, denen er jeden Samstag nach dem wöchentlichen Bad mit einem speziellen Stein zuleibe rückte.
    Eine Erinnerung an seinen Vater hatte sich am tiefsten eingeprägt, eine Szene, die Alexander als Junge im Frühling miterlebt hatte. Der Boden der Sowchose, auf der sein Vater arbeitete, war gerade gepflügt worden, als er sich während eines Spaziergangs bückte, einige Krümel in den Mund schob und auf ihnen herumkaute.
    »Guter Boden«, hatte er gesagt. »Etwas salzig zwar, aber gut. Man darf ihn nicht nur bewässern, man muss ihn auch entwässern.« Er hatte auch Alexander etwas von der schwarzen Erde zu essen gegeben. Aber dem war mehr nach Süßigkeiten, und so spuckte er sofort alles wieder aus.
    »Später wirst du auch einmal Boden essen, mein Junge.«
    Als Alexander jetzt daran dachte, schabten seine Finger im weichen Untergrund, und er leckte sie ab. Nicht, weil ihm nach Boden war, sondern um das Bild seines Vaters zu verstärken. Ein Bild, schwach und verschwommen und ohne Gefühle. Warum empfinde ich für Rassul mehr als für meinen Vater?
    Wenige Monate nach diesem Spaziergang trug seine Mutter plötzlich Schwarz und war ganz aufgelöst. Kurz zuvor hatte sie die Nachricht erreicht, dass ihr Ehemann in ein Getreidesilo gefallen und erstickt war. Wie kann man in Getreide ersticken, hatte er sich damals als Zwölfjähriger gefragt.

    Am nächsten Tag die Überraschung. Vor ihm, nicht einmal einen Kilometer entfernt, bemerkte er halb versteckt durch ein Birkenwäldchen eine kleine Ansiedlung. Etwa ein Dutzend windschiefe Holzhäuser mit fast bis zum Boden heruntergezogenen Dächern, in der Mitte ein freier Platz. Aber niemand war zu sehen.
    Alexander legte sich hinter einen Strauch und beobachtete die Umgebung. Alles blieb totenstill, kein Rauch aus einem der Schornsteine, keine Hühner oder Gänse, kein Hund. Nach und nach dämmerte ihm, dies musste das Winterquartier von Rentierzüchtern sein, die im Sommer mit ihrer Herde weiter im Norden weilten. Mit dem ersten Schnee zogen sie sich dann in die festen Häuser zurück. Was seine Vermutung bestätigte, war ein etwa hüfthoch eingezäuntes Areal für Tiere
    Gegen Abend traute sich Alexander, offen auf die Ansiedlung zuzugehen. Zwischen den kleinen Häusern, die Wände waren aus Reisig und Lehm, die Ritzen hatte man mit Gras und Moos abgedichtet, blieb er abwartend stellen. Schließlich betrat er eines. Die Tür, sie hatte einen Klappmechanismus und kein Schloss, hing in Lederschlaufen am Rahmen. Im Innern war nur ein großer Raum, der Boden aus gestampfter Erde, und in der Mitte stand ein Steinofen. Den Dachboden konnte man über eine schmale Leiter erreichen.
    Die Einrichtung war spärlich, genau wie die der anderen Hütten, die Alexander später auch

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