Der Königsberg-Plan: Thriller (German Edition)
Kisten von den Lastwagen auf das Schiff geschleppt hatten und nun das Boot über den zur Kaimauer hinübergeschobenen Steg wieder verließen. Keiner von ihnen ahnte, was sich in den Kisten befand, und es schien sie auch nicht sonderlich zu interessieren. Jede Tätigkeit, die sie von einem Fronteinsatz befreite, war willkommen.
Die Männer bahnten sich ihren Weg über den Kai und zu den Lastwagen, mitten durch eine gespenstische Ansammlung von Frauen, Kindern und Alten, die eingehüllt in Decken und Mänteln auf eine Gelegenheit warteten, aus der nahezu eingeschlossenen Stadt zu entkommen – erst über den Seekanal nach Pillau und dann raus auf die Ostsee.
Für die, die es nicht schafften, einen rettenden Platz auf einem der Schiffe zu ergattern, blieb nur noch der Todesmarsch über das zugefrorene Frische Haff nach Danzig – oder das Ausharren in der sterbenden Stadt.
Das Schlimmste war das Gewimmer der kranken, frierenden und hungrigen Kinder, das der Wind zusammen mit dem Geruch von brackigem Hafenwasser von der Mole aufs Schiff trug. Nie würde die Frau die abgemagerten Kinder vergessen können, die sich voller Angst an ihre Mütter mit den ausgezehrten Gesichtern pressten.
Über sie war der Krieg erst spät, dann aber mit aller Grausamkeit hereingebrochen, und jetzt harrten sie hilflos in der eisigen Ruinenstadt aus, in die sich ihr geliebtes Königsberg innerhalb weniger Monate verwandelt hatte.
Entgegen dem eindeutigen Befehl hatte sie es nicht über sich gebracht, die mit ihrem letzten Hab und Gut geflüchteten Menschen einfach zu ignorieren. Beim Anblick der verzweifelten Flüchtlinge vor den zerbombten Hafengebäuden waren ihr Tränen in die Augen gestiegen. Sie war aus dem Führerhaus des Lastwagens gesprungen und hatte sich verschämt mit einem Taschentuch die Augen getrocknet, als sie die flehenden Blicke einer Mutter und ihrer Kinder getroffen hatten. Spontan hatte sie versprochen, die Familie mit an Bord zu nehmen. Mehr konnte sie nicht tun. Die anderen würden zurückbleiben müssen in der sterbenden Stadt, die die Nazis für einen selbstmörderischen Endkampf auserkoren hatten.
Der Gauleiter von Ostpreußen, Erich Foch, hatte sich selbst schon vor Monaten den Titel eines Reichsverteidigungskommissars für Ostpreußen verliehen und Hitler ergeben gemeldet, dass er Königsberg bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone verteidigen würde. Ohne ausdrückliche Genehmigung war es streng untersagt, Königsberg zu verlassen. Auf Zuwiderhandlung stand der Tod. Standgerichte der SS zogen im Auftrag des Gauleiters durch die Ruinen der alten Ordensstadt und machten blutige Beute.
Auf dem kurzen Weg zum Hafen war ihre Kolonne an fünf gehängten Wehrmachtssoldaten vorbeigefahren, die an festen Stricken baumelten, und sie hatte die Augen geschlossen.
Die sinnlose Verteidigung Königsbergs war eine tödliche Farce, die der Gauleiter vor der Nazi-Clique in Berlin aufführen ließ. Sie erinnerte sich eindringlich an das Gespräch mit Dr. Brandner, dem Direktor des Schlossmuseums. Hinter einer verschlossenen Tür hatte er ihr flüsternd verraten, dass der Gauleiter schon vor Wochen aus Königsberg geflohen war und seinen vermeintlich heroischen Abwehrkampf in Wirklichkeit aus einem sicheren Bunker in der Nähe des Frischen Haffs führte. Schon aus diesem Grund war es eine Genugtuung für sie, jetzt der Verladung der Kisten zuzusehen.
Sie machte sich jedoch keine Illusionen, was passieren würde, falls die Operation missglückte und sie dem Gauleiter lebend in die Hände fiel. Ein schneller Tod wäre eine höchst unwahrscheinliche Gnade. Unbewusst umfasste sie die geladene Pistole in ihrer linken Manteltasche.
Warten. Ihr blieb nur noch, auf das nächtliche Auslaufen des Kreuzers Emden zu warten. Wegen eines Maschinenschadens musste die Emden bis zum Ostseehafen Pillau geschleppt werden. Eisbrecher würden heute Nacht den zugefrorenen Seekanal freimachen, und im Gefolge konnte dann auch ihr Transportschiff H. Wessels die ersehnte Ostsee erreichen.
Welche Ironie, dass ausgerechnet der alte Reichspräsident Hindenburg, der Hitler zum Reichskanzler berufen hatte, als Verstorbener plötzlich zu ihrem Verbündeten zählte, dachte sie, während sie das Deck über die Außentreppe verließ. Hindenburg‚ in seinem Sarg auf der Emden ruhend, würde das Transportschiff samt der wertvollen Ladung sicher bis nach Pillau geleiten.
„Maria“, sagte sie hoffnungsvoll zu sich selbst. „Es soll Nacht werden und
Weitere Kostenlose Bücher