Der Königsschlüssel - Roman
nach oben gerichtet. Nun wurde es auch Cephei unheimlich, und er versuchte erneut zu erkennen, was die Leute am Himmel entdeckt hatten, aber er reckte den Hals vergebens.
Die Wachen zogen ihre Waffen. Doch so geschmeidig ihre Bewegungen auch waren, die schmalen Schwerter wirkten
merkwürdig fremd in ihren
Händen und überhaupt nicht gefährlich. Mühsam schoben sich die Männer durch die aufgeregte Menschenmasse auf dem Balkon.
Jetzt endlich bekam Cephei den Grund für die Aufregung zu Gesicht: ein Vogel mit Schwingen so breit wie zwei Pferde, die Federn in der Farbe der dunkelsten Stunde der Nacht und einem spitzen feuerroten Schnabel, der länger war als die Schwerter der Wachen und viel bedrohlicher. Seine Krallen sahen aus, als könne er damit eine ganze Kuh vom Erdboden in die Lüfte reißen.
Der Vogel stürzte vom Himmel. Schneller, als Cephei je ein Pferd hatte rennen sehen, schneller, als er je einen Stein in den Brunnen hatte fallen sehen, und direkt auf den Balkon zu.
Der Königsmechaniker wurde umgestoßen, und mit einem
Mal blinkte der Schlüssel im Schnabel des Vogels. Für einen Lidschlag hockte das Tier auf der Balkonbrüstung und überragte jeden Menschen dort, selbst die langen Palastwachen wirkten neben ihm winzig. Dann breitete der Vogel seine gigantischen Flügel aus und wischte mit ihnen die Männer und Frauen hinweg, die ihm im Weg standen. Zwei Höflinge stürzten über das Geländer. Sie landeten auf der Menschenmenge, die in Panik umherwogte und nicht wusste, in welche Richtung sie fliehen sollte. Jeder schob und zerrte woanders hin.
Auf der Unterseite sahen die Schwingen des Vogels aus wie alte Spinnweben in der dunklen Ecke eines lange verlassenen Schuppens. Mit zwei kräftigen Schlägen dieser Schwingen war der Vogel schon über dem Dach des Palastes, dann verlor Cephei ihn durch das dichte Laub wieder aus den Augen. Aber die ängstlichen Blicke vieler verrieten ihm, dass er in Richtung Süden verschwand. Fassungslos hockte Cephei auf dem Baum und konnte sich nicht rühren.
Niemand hatte das Tier bemerkt, bis es zu spät gewesen war. Es hatte nicht das geringste Geräusch gemacht. Und ebenso lautlos war es auch wieder verschwunden, doch die Menschen schrien nun umso lauter. Sie flohen, kauerten sich in Ecken, stießen sich gegenseitig um und drängten fort vom Schlossplatz, auch jetzt noch, da der Vogel längst verschwunden war. Die Höflinge waren vom Balkon ins Innere geflohen, hilflos blickten die Palastwachen umher und drehten sich hektisch im Kreis.
Nur der König war nicht davongesprungen. Er war mitsamt seinem Thron umgekippt und lag regungslos auf der Seite. Dabei lächelte er noch immer. Unverwandt starrte Cephei zu seinem Herrscher hinüber, doch er konnte nicht die leiseste Zuckung
ausmachen. Zitternd klammerte er sich an den alten Baumstamm und murmelte: »Steht auf, Majestät. Steht doch auf!«
Doch der König rührte sich nicht und wurde schließlich von den Palastwachen hineingetragen. Dass er nicht mehr aufgezogen wurde, war undenkbar! Der Königsmechaniker findet sicherlich einen Weg, dachte Cephei, aber er fühlte sich mutlos. Was, wenn nicht? Was sollte aus ihnen werden ohne den freundlichsten König aller Länder?
EIN ALTES GESETZ
Ich will zu meinem Vater!«, forderte Vela zum siebzehnten Mal, und die dicke Palastwache mit dem großen Schnurrbart und den kleinen Augen antwortete erneut: »Das geht nicht.«
»Warum?«
»Ist Befehl.«
»Aber warum?«
»Befehl ist Befehl.« Der Mann hielt seinen kräftigen Arm erhoben, um sie festzuhalten, falls Vela wieder die Tür zum Spiegelsalon stürmen wollte, in dem ihr Vater nach dem Überfall untergebracht worden war. Vor den Räumen, in denen die anderen Verwundeten lagen, standen jedoch keine Wachen.
Vela hatte es inzwischen aufgegeben, sich mit Gewalt, Schreien oder Betteln Zutritt verschaffen zu wollen, denn die Palastwache war viel zu stark für sie. Doch sie wollte wissen, wie es ihrem Vater ging. Dieser gigantische Vogel hatte ihn weggestoßen, er war unglücklich gefallen und hatte sich den Kopf geschlagen. Auf seinem Hemd, das die Klauen des Untiers zerrissen hatten, war Blut gewesen, und dann war auch noch eine korpulente Hofdame mit hohen spitzen Schuhen auf seine Hand getreten, bevor ein alter Höfling und eine Wache ihm aufhelfen konnten.
Vela hatte nichts tun können, alles war so schnell gegangen, und sie war zu überrascht und zu schwach gewesen, um sich durch die durcheinanderlaufenden
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