Der Königsschlüssel - Roman
Erwachsenen zu kämpfen. Immer wieder hatten die panischen Würdenträger sie zurück in ihre Ecke gedrückt. Danach hatten sie ihren Vater einfach ins Schloss geschleppt, noch bevor sie mit ihm reden konnte. Alle
waren aus Angst vor weiteren Angriffen ins Schloss geflohen, und sie war hinterhergestürzt, hatte ihren Vater jedoch nicht einholen können.
»Ich will zu ihm!«, schrie sie deshalb zum achtzehnten Mal, doch bevor die Palastwache antworten konnte, öffnete sich hinter ihr die Tür zum Salon, und der Hofarzt trat heraus. Ein schmaler kleiner Mann mit einer riesigen Tasche, der nach Schwefel stank und auf dessen Mantel Fettflecken zu sehen waren. Missbilligend sah er sie über den Rand seiner Brille hinweg an.
»Was veranstaltest du hier für einen Lärm, Kind?«
»Wie geht es meinem Vater?«, japste Vela.
Der Arzt wirkte nervös, als er sprach. »Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Er hat eine große Beule auf dem Hinterkopf und ein paar kleine Ritzer auf der Brust. Die Krallen des Vogels sind nicht tief eingedrungen. Nur die linke Hand ist geschwollen und braucht wohl ein paar Tage Ruhe. Ich habe einen Aderlass vorgenommen, damit der Dreck aus der Wunde fließen kann. Oder auch mögliches Gift von den Krallen des Vogels.«
»Kann ich zu ihm?«
»Nein.«
»Aber warum?«
»Befehl ist Befehl.« Damit wandte sich der Arzt ab und eilte den Flur entlang, um nach den anderen Verwundeten zu sehen, die in diesem Flügel untergebracht waren. Aus dem Jagdzimmer erklang das verzweifelte Wimmern einer Frau, die der Vogel mit dem unheimlichen nachtschwarzen Flügel gestreift hatte.
Der Arzt versuchte sie zu beruhigen. »Aber, aber, meine Dame, nur keine Bange, nach dem Aderlass wird es Ihnen besser gehen, versprochen. Das mögliche Gift werden wir einfach fortspülen.«
Dann wurde die Tür geschlossen, und Vela bekam nichts mehr
mit. Doch in ihr keimte der Verdacht, dass der Hofarzt vielleicht immer einen Aderlass anwandte, ganz gleich, welche Krankheit vorlag.
»Befehl ist Befehl«, äffte sie ihn nach und sah wieder die Palastwache an. »Und woher kommt der Befehl?«
»Von oben.« Der Mann blickte verwirrt zurück. »Die kommen doch immer von oben.«
Mit offenem Mund starrte sie ihn an, dann stapfte sie wutschnaubend davon. »Von oben. Danke. Und ich dachte, hier im Schloss gibt der Küchenjunge die Befehle. Pah!«
Sie lief zur vorderen Treppe, auf der einige Küchenmägde saßen und klagten, wobei sie in ihre Schürzen weinten und immer wieder riefen: »Aber der König, der König!«
Doch Vela konnte sich jetzt keine Gedanken um den König machen und darüber, dass er nicht aufgezogen worden war. Wenn es ihrem Vater erst wieder gut ging, würde der sich darum kümmern. Sie musste ihn nur zuerst sehen - und Kassia musste ihr dabei helfen! Sie war schließlich die Tochter des Kanzlers und konnte sicher ein gutes Wort für Vela einlegen.
Während sie durch den Palast in den östlichen Flügel eilte, in dem ihr gemeinsames Zimmer lag, sah sie in den Gängen viel mehr Wachen postiert als sonst. Die Blicke der Männer waren grimmig und misstrauisch, immer wieder bellten sie Befehle, verlangten nach dem Hofarzt oder sagten den Höflingen, dass sie nicht in den Gängen stehen bleiben sollten. Hinter manchen Türen wurde geschrien, hinter anderen geweint.
Seit es die Schlüsselzeremonie gab, hatte es keinen solchen Überfall gegeben, und niemand wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Allen saß die Angst im Nacken.
Aber ist das ein Grund, mich nicht zu ihm zu lassen?, dachte
Vela, und ihr Blick war nicht weniger grimmig als der der Palastwachen. Als sie endlich ihr Zimmer erreichte und hineinstürmte, lief Kassia dort hin und her wie ein eingesperrtes Tier. Sie war sichtlich aufgebracht, auch wenn ihr Vater unverletzt war.
»Das ist eine Katastrophe!«, rief sie, und Vela stieß gleichzeitig hervor: »Die lassen mich nicht zu meinem Vater!« Dann sahen sie sich an und fragten: »Was?« und »Wer?«
Erst nach mehreren Anläufen schafften sie es, nacheinander zu reden. Vela berichtete, dass sie nicht zu ihrem Vater durfte, obwohl er gar nicht so krank war. »Kann dein Vater da nichts machen?«
Bedrückt sah Kassia sie an. »Machen? Nein, machen kann er da nichts. Auch der Kanzler muss sich ans Gesetz halten, damit die Ordnung im Land bewahrt wird. Gerade nach so einem furchtbaren Unglück.«
»Was für ein Gesetz? Gibt es ein Gesetz, dass den Besuch bei kranken Vätern verbietet?«
»Nein. Aber
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