Der Königsschlüssel - Roman
des Schlosses, das Hemd verschwitzt von der ganzen Rennerei - und dann öffnete niemand die verfluchte Tür!
Ein Diener mit stumpfen grünen Augen trat zu ihr und fragte: »Was möchtest du denn?«
»Den Kanzler sprechen.«
»Um diese Stunde ist der Kanzler nie für das Volk zu sprechen, er hat wichtige Aufgaben zu erledigen. Komm ein anderes Mal wieder. Dort drüben hängen die Zeiten aus, zu denen du dein Anliegen vortragen kannst.« Er deutete auf eine Holztafel mit drei verzierten Leisten, auf denen geschwungene silberne Zahlen aufgereiht waren und über der eine schlichte Stahluhr hing.
»Aber es kann nicht warten, ich muss den Kanzler jetzt sprechen.«
Der Diener schüttelte missbilligend den Kopf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, während er sich zu Vela herabbeugte. »Der Kanzler ist in die Stadt gefahren, um auf dem Marktplatz zum Volk zu sprechen. Er muss den Pöbel beruhigen, damit keine Unruhen aufkommen. Und das ist allemal wichtiger als die Sorgen eines kleinen Mädchens. Du musst dein Anliegen morgen vortragen, jetzt hat dafür niemand Zeit. Und sollte morgen jemand Zeit finden, dann sei dankbar und nicht pampig.«
»Das kann doch alles nicht wahr sein«, murmelte Vela, aber sie erkannte, dass sie hier vergeblich versuchte, etwas zu bewegen; der Diener konnte ihr nicht helfen.
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und rannte den Gang zurück. Wieder unzählige Treppen hinauf und hinab und dann aus dem Schloss hinaus, vorbei an den Wachposten, die begonnen hatten, das Tor zu schließen.
Sie rannte über den sonnenbeschienenen Hof und weiter die breite Allee hinunter. Auf halber Strecke stolperte sie über einen herausstehenden Pflasterstein. Ihr Kopf raste Richtung Pflaster, schützend riss sie die Arme nach vorn, doch mit Händen und Knien knallte sie auf den rauen Boden. Der Schmerz sauste direkt in ihren Kopf, so dass sie dachte, es würde ihr die Schädeldecke anheben. Einen Moment lang blieb sie einfach hocken und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ, dann schrie sie ihn mit einer garstigen Verwünschung hinaus.
Als sie sich endlich aufgerappelt hatte, betrachtete sie ihre aufgeschrammten Handflächen. Sie brannten, und ein paar Tropfen Blut sickerten hervor. Doch sie humpelte weiter und wischte die Hände an der Hose ab.
Als sie den Marktplatz erreichte, sah sie die rot-goldene Kutsche des Kanzlers mit den hohen breiten Rädern auf der anderen Seite in einer breiten Straße verschwinden. Offenbar war der Kanzler mit der Ansprache fertig.
»Mist«, fluchte Vela laut, und eine ältere Frau mit Samthut schüttelte den Kopf, als sie an ihr vorbeiging.
Die Menschenansammlung löste sich langsam auf, und Vela hörte vereinzelt Gesprächsfetzen, während sie sich einen Weg durch die Menge bahnte. Da waren besorgte Handwerker und Bedienstete, Kinder mit flinken Augen, schnatternde Mägde,
brummige Knechte und herausgeputzte Besucher, die nur für die Zeremonie und das Turnier in die Stadt gekommen waren und nun neugierig alles aufsogen, was es zu sehen gab. Sie sah sorgenvolle, entschlossene, misstrauische, nervöse und angespannte Gesichter, aber auch Erleichterung, ein vorsichtiges Lächeln und hoffendes Nicken. Doch die Panik von der Zeremonie war verschwunden, so weit hatte der Kanzler die Menschen beruhigen können.
»Wenn er es sagt …«
»Gut, dass er da ist …«
»… aber ohne König geht’s eben nicht!«
»Eingebildeter Affe!«
Atemlos rannte sie hinter der Kutsche her. Ihre Beine schmerzten, die Lunge schien jeden Moment zu platzen, und die Leute riefen ihr Beschimpfungen nach, wenn sie sie anrempelte, aber Vela blieb nicht stehen. Sie rief den Kanzler und wurde mit jedem Ruf lauter, bis die Kutsche tatsächlich anhielt und der Kanzler aus dem Fenster sah. Er wirkte noch immer ruhig. Sein Blick unterschied sich nicht von dem, den er ihr vor wenigen Stunden im Schloss zur Begrüßung zugeworfen hatte.
»Herr Kanzler!« Sie atmete schwer. »Was … was passiert jetzt … mit meinem Vater?«
»Er wurde in den Kerker gebracht.«
»Aber weshalb?«
Einige Leute blieben stehen und verfolgten den Wortwechsel. Für sie waren der Kanzler und das Mädchen, das ihm hinterherlief, offenbar ein interessanteres Spektakel als ihre eigenen Angelegenheiten.
Der Kanzler blickte immer wieder zu ihnen, während er mit Vela sprach. »Das ist es ja gerade, er hat nichts gemacht. Er hätte
den Schlüssel nicht verlieren dürfen, es war seine Aufgabe, den Schlüssel zu
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