Der Königsschlüssel - Roman
außerhalb der Schlossanlage stand.
Von dem Turm hieß es, dass nicht einmal Spinnen oder Käfer von dort entkommen konnten, geschweige denn Ratten oder Gefangene. Der Kerkerturm war breiter als hoch und hatte dicke Mauern aus dunkelgrauen Felsquadern.Rings um den Turm verlief ein viele Schritt tiefer und breiter Wassergraben, in dem dunkle Schemen mit schnellen, zackigen Bewegungen umherhuschten. Die Schemen waren deutlich größer als Vela
und warfen Wellen, auch wenn sie niemals bis zur Oberfläche auftauchten. An beiden Ufern standen schwere Kräne, mit denen die Kerkerwachen Fleisch ins Wasser wuchten konnten, um die Schemen zu füttern. Manchmal fanden sich Schaulustige zu den Fütterungszeiten an den Gräben ein. Aber das waren meist bärbeißige Gesellen von außerhalb, Seemänner, die keine Angst vor Ungeheuern im Wasser hatten.
Menschen wie Vela machten lieber einen Bogen um diesen Ort, denn niemand wusste genau, welche Art Tiere diese Schemen nun waren. Es sei aber auch besser so, wurde behauptet, denn wer ihren Namen kenne, den könnten sie im Traum besuchen und ihm dort Schlimmes antun. Die Seemänner lachten über solche Geschichten, und die Wagemutigsten unter ihnen spuckten sogar in den Wassergraben. Vela aber wollte sich nicht vorstellen, was die Schemen mit einem Unglücklichen machten, der ins Wasser fiel.
Auf ihrer Seite des Grabens, direkt dem massiven Turmeingang gegenüber, war eine Zugbrückenkonstruktion aus schwarzen Planken und mattem Stahl errichtet worden. Die Brücke selbst stand aufrecht vor einem Gerüst und konnte von einem einzigen Mann mit Hilfe einer Kurbel über den Graben hinabgelassen werden.
Während der Palastwächter zu kurbeln begann, betrachtete Vela die offen liegende Konstruktion aus Zahnrädern, Ketten und Walzen. Obwohl die Trauer wie ein fester Klumpen in ihrem Bauch lag, konnte sie die Augen nicht abwenden. Sie sah sich an, wie Zähne und Kettenglieder ineinandergriffen und so den Kraftaufwand erheblich verringerten.
Seit ihr Vater ihr dieses mechanische Prinzip erklärt hatte, war sie davon fasziniert, auch wenn sie die Formel längst wieder
vergessen hatte, mit der man den Zusammenhang von Kraft und Weg und Gewicht und was sonst noch allem berechnen konnte. Sie wollte nicht rechnen, sondern bauen.
Fasziniert beobachtete sie, wie sich die Räder drehten, während sich die Brücke Stück für Stück senkte und der Wächter keuchte und schwitzte. Ganz ohne Kraft ließ sich die Brücke natürlich trotz allem nicht bewegen.
Im Turm selbst gab es nicht viele Zellen, das eigentliche Gefängnis befand sich außerhalb der Stadt. Hier wurden nur jene Verbrecher festgehalten, die sich eines Vergehens schuldig gemacht hatten, das im Zusammenhang mit dem König, dem Schloss oder dem Kanzler stand. Solche Vergehen waren selten, und sie wurden hart bestraft. Denn, wie ihr der Kanzler einmal erklärt hatte, der König in seinem Schloss war die Grundlage für das Glück des Volkes und des Reiches. Wer ihm schadete, schadete dem ganzen Volk. Landesverrat war schließlich auch der Grund, aus dem man ihren Vater hergebracht hatte.
Als sie schließlich die Brücke überquerten, sah Vela nicht ins Wasser und zu den Schemen hinunter, sondern stur auf den Rücken des Wächters. Er klopfte an das Tor, und nach einem Moment öffnete sich eine Luke im Türblatt.
»Mach das Tor auf, du Hund. Ich hab hier vornehmen Besuch für einen deiner Gäste«, sagte die Palastwache und warf Vela einen gehässigen Blick zu.
»Genehmigung?«, kam es brummend von der anderen Seite.
»Aber ja. Nun mach schon, beeil dich. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
Besonders erpicht schien der Kerkerwächter nicht auf eine Erklärung zu sein, denn sofort hörte Vela das Knarzen eines Schlüssels, der nicht oft im Schloss bewegt wurde, und die Tür
öffnete sich. Vor ihnen stand ein kleiner unrasierter Mann, der nach Wein und altem Schweiß roch.
Sie drängten sich an dem Mann vorbei, hinein in das Dunkel des Turms. Der Palastwächter ging mit ihr ein halbes Dutzend grober Stufen ins untere Geschoss des Turms hinab, wo sich das Verlies befand. Oben vermutete Vela die Räume der Wachhabenden und vielleicht auch ein Lager für das Schemenfutter. Ihr schauderte.
»Pass auf, wo du hintrittst, wenn du dir deine hübschen Schuhe nicht schmutzig machen willst, Mädchen«, lachte der Mann, aber es klang nicht freundlich. Der Boden war mit Schmutz übersät, hier war wahrscheinlich seit der Stadtgründung nicht
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