Der Königsschlüssel - Roman
nicht mehr nur den Hunger in ihrem Bauch kneifen, sondern auch Ärger und Wut über diese elende Ungerechtigkeit.
Schnell rannte sie zur Werkstatt und lauschte an der Tür, aber es schien noch niemand hier zu sein. Vorsichtig drückte sie die Klinke nach unten und schlich sich in die Kammer ihres Vaters. Dort nahm sie das Geld aus dem Schrank und steckte ein
Taschenmesser ein, das ihm gehörte. Außerdem seine kleine Reisewerkzeugkiste mit den Schraubenschlüsseln aus goldenem Stahl. Sie war eine Anerkennung des Königs gewesen, und die Palastwachen sollten sich die Kiste bloß nicht unter den Nagel reißen. Vela würde auf sie aufpassen.
Auf dem Weg nach draußen entdeckte sie auf einer Werkbank ein Tablett, auf dem ein Brotlaib und ein großes Stück Würzkäse lagen. Wahrscheinlich noch vom Abend zuvor. Der lange Tom war nie der Ordentlichste gewesen. Sie steckte beides ein und flüsterte: »Geschieht ihm recht.« Dann huschte sie nach draußen und suchte sich eine stille Ecke unter den Wasserpumpen im Garten, in der sie unbehelligt und unbegafft frühstücken konnte.
Während neben ihr das Wasser mit Hilfe rotierender Schrauben durch vier parallele Rohre in das riesige, mit silberblauen Mosaiken verzierte Hochbecken gesogen wurde, beobachtete sie aus dem Schatten das Treiben im Schlosshof.
Als sie sich eben das letzte Stückchen Käse in den Mund stopfte, wurde ein gesatteltes Pferd in ihr Blickfeld geführt, gefolgt von einem aufgeregten Haufen Höflinge und Hofdamen, die sich um Ritter Pavo drängten. Der lächelte nachsichtig auf sie herab.
In seiner roten Reitkleidung und der goldenen Schärpe, die um seine Brust gebunden war, sah er außerordentlich gut aus. Es hieß, er habe bereits in vielen Schlachten gekämpft, und dass er kaum zu Hause anzutreffen sei, weil er stets unterwegs auf Abenteuerfahrt sei. Am Sattel waren ein mächtiger Bogen und sein breites Schwert mit dem leuchtend grünen Griff und der verschlungenen Parierstange befestigt. Eine Hofdame flocht ein rot schimmerndes Seidenband in die Mähne seines Pferdes, das farblich wunderbar mit der Schärpe des Ritters harmonierte.
Vela beobachtete alles genau. Die Waffen sahen neu aus, auch die Kleidung, wahrscheinlich waren die anderen Sachen des Ritters schon so abgenutzt vom Kämpfen, dass man ihn eigens für diese Reise neu ausgestattet hatte. Ihr war es egal, womit er den Vogel fangen und den Schlüssel zurückbringen wollte, Hauptsache, er tat es.
Sie kletterte zwischen den Rohren der Wasserpumpe hervor und lief zurück auf den Hof. Dort setzte sie sich auf die große Treppe, die zum Eingang des Schlosses hinaufführte, und überlegte, wann sie den umlagerten Ritter ansprechen sollte. Besser wäre es wohl erst, wenn die Höflinge verschwunden waren, sie wollte sich ihren Blicken und bissigen Bemerkungen nicht aussetzen, schon gar nicht vor den Augen eines Ritters, den sie um Hilfe bitten wollte. Ohne nachzudenken streckte sie den Höflingen die Zunge heraus, es sah sowieso keiner von ihnen her.
In diesem Moment setzte sich der Gärtner, ein alter Mann mit langem Vollbart und einer Rose im obersten Knopfloch, neben sie und begann, Kautabak zu kauen.
»Wollen wir hoffen, dass dieses Theater nicht noch länger geht«, sagte er nach einem Moment und spuckte aus. »Die halben Hispellas-Büsche haben diese Weiber mir schon ausgerissen, nur um sie diesem Gaul in die Mähne zu flechten. Und aus dem Rest binden sie Blumenkränze. Aus Gallyzien! Das Zeug vertrocknet schneller als eine Mutter von dreizehn Kindern.«
Vela kicherte, während der Gärtner wieder ausspuckte. Fast hätte er dabei die zierlichen violetten Schuhe eines Fräuleins getroffen, das japsend an ihnen vorbeieilte, hinüber zur Verabschiedung des berühmten Ritters. Sie war wohl zu spät aufgestanden oder hatte zu lange gebraucht, die glänzenden schwarzen
Haare zu vier kunstvollen Muscheltürmen hochzustecken. Sie stieß einen spitzen Schrei und einige sehr undamenhafte Flüche aus, als der Tabak vor ihren Füßen zu Boden klatschte, unterbrach aber nicht ihren Lauf.
Vela hörte nicht auf zu kichern, während sich die ersten Locken des eilenden und schimpfenden Fräuleins aus der Frisur lösten. »Wo sind denn die anderen drei Ritter?«, fragte sie den Gärtner.
»Ach die. Die schlafen noch und reiten erst später los. Pavo wollte der Erste sein.«
Das gefiel ihr, bewies es doch, dass er die Sache ernst nahm. Der charmante baumgroße Ritter schien zu wissen, was er tat, und
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