Der Königsschlüssel - Roman
komm.«
Während er Richtung Tür schritt, sah sich Vela noch einmal um. Warum hatten es alle nur auf einmal so eilig, der Hexe zu begegnen? Wenn man einen Abgrund sah, rannte man doch auch nicht darauf zu!
Neben der Tür hingen mehrere Kästen aus dunkel gemasertem Holz, die in viele Waben unterteilt waren. Zögerlich trat sie näher, und als sie erkannte, was da in den Kästen aufbewahrt wurde, schluckte sie.
In jeder Wabe lag der Körperteil von irgendeinem Tier oder Wesen, vielleicht auch von Menschen. Kleine, braune Köpfe, deren Augen finster auf den Betrachter schauten, verschrumpelte Klauen mit gelben Nägeln, auch Füße mit drei krummen Zehen, ein silbernes Haarknäuel, schimmernde Schuppen, blanke Knochen, ein handlanger schwarzer Rüssel, ebenso wie eingelegte spitze Ohren, die denen des Elfen sehr ähnelten. Vela stockte der Atem, und sie trat einen Schritt zurück.
Hinter sich hörte sie den Elf die Leiter heraufkommen und wünschte, die beiden anderen wären nicht so schnell verschwunden
- dann hätten sie vielleicht doch entwischen können. Immerhin konnte er nicht gleichzeitig den Bogen gespannt halten und die Leiter erklimmen. Aber die beiden anderen waren weg. Mit einem tiefen Seufzer trat Vela durch die Tür und wappnete sich gegen den Anblick der Hexe.
SERPEM
Das Erste, was sie sah, war jedoch keine entsetzliche Hexe, sondern ein großer Herd, auf dem ein halbes Dutzend Töpfe und Tiegel standen, die alle vor sich hin dampften und aus denen die Gerüche herüberwehten, die sie schon bei ihrer Ankunft wahrgenommen hatte. Die aufsteigenden Dampfschwaden besaßen die unterschiedlichsten Farben: blau und grün, rot und gelb. Mittendrin stand ein Topf, dessen Dampfschwaden wie schwarze Regenwolken zur Decke stiegen und sich dort ballten.
Urs war da, auch Cephei, sie lebten. Niemand hatte sie erschlagen. Sie saßen an einem großen Esstisch aus hellem Holz und blickten zu ihr herüber.
Das war gut.
Und dann bemerkte Vela auch die Hexe, die an einer Küchenvitrine über einen Topf gebeugt stand und mit einem großen Holzlöffel darin herumrührte.
Das war nicht so gut.
»Komm nur herein, Vela«, sagte sie. Ihre Stimme klang weich, sie rollte das R wie die Händler aus dem Westen, die Vela manchmal in ihrem Dorf traf.
»Du kennst meinen Namen?«
Die Hexe wies auf Cephei und antwortete nicht, und Vela überwand den ersten Schreck und sah sich die Frau genauer an. Sie war nicht sehr groß, einen Kopf größer als Vela vielleicht, und sie war auch nicht so alt, wie es immer von Hexen hieß. Ihre Haut besaß noch nicht viele Falten, und das Haar war strahlend blond, als würde die Sonne direkt darauf scheinen. Ihre Lippen
hatten sich zu einem Schmollmund verzogen, der auf die linke Wange ein Grübchen malte. Sie war sehr schön, und Vela fragte sich, warum die Leute behaupteten, Hexen erkenne man an ihrer finsteren Ausstrahlung.
Diese jedenfalls war nicht finster, sie strahlte.
Als sie den Kopf hob und Vela ansah, wich diese trotzdem einen Schritt zurück, weil der Blick tief in sie hineinzusehen schien, und das Grün darin erinnerte sie an einen Wald, der so dicht war, dass man sich in ihm verlaufen konnte. Oder vielleicht an die Farbe von Schlingpflanzen in einem Teich. Kein sanftes Grün jedenfalls.
Der Elf trat in die Küche und stellte sich an die Wand, sein Gesicht hatte sich gerötet, der Aufstieg schien auch für ihn nicht leicht gewesen zu sein.
Die Hexe sah ihn missbilligend an, während sie weiter im Topf rührte. »Was hast du mir da schon wieder mitgebracht, Morvan? Was soll ich mit denen? Die sehen nicht so aus, als wären sie zu irgendetwas nütze!«
»Man könnte den Bären verkaufen.«
»Ich bin nicht zu verkaufen«, erwiderte Urs und sah den Elfen wütend an, der sich davon nicht beeindrucken ließ.
»Aber der da«, er zeigte auf Cephei, »hat doch gesagt, wir sollen dich verkaufen.«
Cephei hob abwehrend die Hände. »Ich hab das nicht so gemeint.«
»Warum hast du es dann gesagt?«, giftete Vela ihn an. Und an die Hexe gewandt fuhr sie fort: »Wir müssen weiter, wir können nicht hierbleiben. Wir müssen den Klippengeier finden, der den Königsschlüssel gestohlen hat.«
Die Hexe legte den Löffel beiseite und betrachtete die drei
nachdenklich. »Der Königsschlüssel ist weg? Wann ist das passiert?«
»Vor ein paar Tagen.« Warum log sie die Hexe eigentlich nicht an? Da war etwas in ihrem Kopf … wie die Melodie des Waldes. Aber als sie versuchte, sich darauf zu
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