Der Königsschlüssel - Roman
geöffnetes Fenster zu ihr herüber und lenkten sie von dem Elf in ihrem Rücken ab. Die Gerüche waren süß und mit einer Spur von Scharfwurz, es roch nach einer satt machenden Mahlzeit, und erst jetzt bemerkte sie, wie hungrig sie eigentlich war. Seit sie aufgebrochen waren, hatte sie nicht mehr richtig gegessen. Aber sie wollte sich nicht darüber beschweren, wenn sie daran dachte, dass ihr Vater im Kerker saß. Ihm gab man sicher auch kein richtiges Essen, so wie es dort nach angebranntem Getreidebrei gerochen hatte.
Doch in diesem Moment knurrte ihr Magen, und sie konnte sich nicht länger etwas vormachen. Sie war hungrig. Sehr hungrig sogar.
Als sie vor dem Haus standen, öffnete sich auf einmal eine Tür,
die sie vorher nicht bemerkt hatte, weil sie mit den Wänden abschloss und im dichten Flechtwerk nicht zu erkennen gewesen war. Eine Strickleiter entrollte sich und schwang sanft hin und her. Bevor der Elf noch etwas gesagt hatte, packte Cephei auch schon die Leiter und schwang sich daran empor. Er schien es eilig zu haben, ins Haus zu kommen.
Entsetzt sah Vela ihm nach. Was war nur in ihn gefahren?
»Cephei, warte!«, rief sie, aber er hörte sie nicht und war schon im Innern des Hauses verschwunden.
Fieberhaft überlegte sie. Wenn Urs sie verdeckte, konnte sie sich vielleicht einfach unter dem Haus hindurchducken und dann weglaufen. Sah der Elf das nicht sofort, hätte sie eine Chance zu fliehen …
Aber sie brachte es nicht über sich. Sie glaubte zwar nicht, dass es einen Unterschied machte, ob sie nun da war oder nicht, denn gegen eine Hexe konnte sie nicht viel ausrichten, dennoch wollte sie die beiden anderen nicht einfach so bei ihr zurückzulassen. Das wäre Verrat gewesen, und Verräter wollte sie sich nicht rufen lassen, auch wenn sie gar kein Ritter werden wollte. Außerdem war Cephei auch nicht davongerannt, als die Baumfaust sie erwischt hatte. Er war zwar keine große Hilfe gewesen, aber trotzdem.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie auch ein wenig Angst, einen Pfeil in den Rücken zu bekommen und tief im Wald allein auf der Flucht zu sein.
Vorsichtig griff sie nach der Strickleiter und sah nach oben, aber dort war nichts zu erkennen außer dem dunklen Loch in der Wand.
Mühsam zog sie sich empor und erklomm eine schwankende Sprosse nach der anderen, dann schwang sie die Beine über
den Rand und hievte sich hoch, wobei sie damit rechnete, jeden Moment erschlagen zu werden. Aber als sie endlich wieder aufrecht stand, passierte überhaupt nichts, und Vela sah sich im gelben und rötlichen Dämmerlicht um, das sich von dem des grünen Waldes unterschied.
Es standen allerlei Regale an den Wänden, in der Mitte befand sich ein großer, runder Tisch, der allerdings nicht viel höher war als Velas Kniescheibe. Um ihn herum lagen bunte Kissen auf dem Boden, die wohl als Sitzgelegenheit dienten.
Gerade wollte sie einen Schritt nach vorn machen, als hinter ihr ihr Name erklang, und sie beugte sich über die Klappe im Fußboden, um nach unten zu sehen.
Dort standen Urs und der Elf, der noch immer mit dem Pfeil auf den Bären zielte. Urs hatte eine Pranke an der Leiter und sah skeptisch zu ihr empor.
»Wie sieht es aus, Mädchen?«
Vela zuckte mit den Schultern. »Ich kann nicht viel erkennen, Cephei ist schon weg.«
»Dieser Bengel«, murmelte der Bär, er schien zu zögern, aber ihm blieb keine Wahl.
Doch sein Aufstieg gestaltete sich schwierig, weil die Strickleiter nicht für die Größe des Bären ausgelegt war. Auch wenn er eigentlich ein guter Kletterer war, schwankte die Leiter doch beträchtlich, und die Sprossen und Seile knirschten und ächzten unter seinem Gewicht. Ein paarmal rutschte er beinahe ab oder fand nur noch mit den Pranken Halt.
Der Elf trat einen Schritt zurück, um nicht erschlagen zu werden, falls Urs stürzte.
Als er endlich die oberste Sprosse erreichte, griff Vela in sein dichtes, struppiges Fell, in dem sich Schweiß und der Staub
der letzten Tage verfangen hatten, und zog ihn halb zu sich herein. Als er wieder auf den Beinen stand, rückte er seinen Schwertgurt umständlich zurecht, wobei er sie nicht ansah. Es war ihm wohl peinlich, sich von einem Mädchen helfen lassen zu müssen.
»Wo ist Cephei?«, fragte er stattdessen.
»Keine Ahnung.«
Mit einem Mal wurde es heller, und sie zuckte erschrocken zusammen. Eine weitere Tür hatte sich geöffnet, die in einen zweiten Raum führte.
»Sieh einer an«, sagte Urs und räusperte sich. »Gut, gut, dann
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