Der Königsschlüssel - Roman
Prüfungen.«
Das war weniger erfreulich. »Siehst du, was ich später einmal machen werde?«
Serpem sah ihr in die Augen. »Dazu brauche ich nicht deine Hand anzusehen, sondern nur dich, mein Kind.«
Velas Hand lag warm in der von Serpem, und sie fühlte sich auf einmal schrecklich müde; die Reise hatte sie angestrengt, obwohl sie noch gar nicht so lange unterwegs waren. Und plötzlich sah sie wieder ihren Vater vor sich, wie er mit grauem kraftlosem Gesicht hinter dem Gitter des Kerkers stand, und dem Wissen, in einem Jahr vielleicht sterben zu müssen. Der ganze Schrecken dieses Tages holte sie wieder ein. Ihre Zukunft erschien ihr im Moment wie grauer Nebel.
»Du wirst schon sehen, Vela, es ist alles da, du musst dich nur trauen, es dir zu holen«, flüsterte Serpem und ließ ihre Hand los.
Gleichzeitig streckten ihr Urs und Cephei die Hände entgegen, damit sie ihnen ebenfalls die Zukunft weissagte. Vela bekam davon nicht viel mit, sie war zu sehr in Gedanken versunken, hörte nur, wie Serpem dem Bären riet, sich stets ehrenhaft und ritterlich zu verhalten und sich vor Pelzhändlern zu hüten. Dann ließ sie seine Pranke los und wandte sich an Cephei, der rot wurde und auf ihre Hand starrte, die seine hielt.
Eine Zeit lang schwieg sie, dann legte sie den Kopf schief und sagte zum wiederholten Male an diesem Tag: »Interessant.«
»Was denn?«
»Diese Linien. Es werden sich viele deiner Träume erfüllen, und auch ein paar von deinen Albträumen. Vielleicht kommst du nie dort an, wo du hinwolltest, aber das muss nicht schlecht sein. Es ist alles sehr spannend«, sagte sie und lehnte sich zurück, aber Cephei schien mit dieser Antwort nicht zufrieden.
»Was wird denn geschehen? Wo werde ich ankommen?«
»Das wirst du schon sehen, ich kann dir hier doch nicht alles verraten.« Serpem stand auf, um sich aus einer Karaffe ein Glas einzuschenken. Die Flüssigkeit hatte die Farbe von Meerwasser und roch süßlich. Sie bot den anderen nichts davon an, Urs hatte ein Bier vor sich stehen, und Cephei und Vela tranken Tee. Nur Morvan nippte ab und zu von Serpems Glas, und sie verbot es ihm nicht.
Vela fand die beiden merkwürdig, der Elf sah aus, als könne er ihr Sohn sein, aber er war sicher doppelt so alt wie die Hexe. Elfen waren fast unsterblich, Hexen nicht, aber durch ihre Zauberei lebten sie bestimmt länger als normale Menschen. Wer weiß, vielleicht waren beide sogar schon hier gewesen, als es den Mechanischen König noch nicht gegeben hatte. Während sie die beiden betrachtete, vernahm sie wieder leise die Melodie des Waldes, obwohl sie doch im Inneren des Hauses waren.
»Geht denn wirklich alles in Erfüllung, was du in meiner Hand siehst?«, wollte Cephei noch einmal wissen, und Serpem lachte und schüttelte den Kopf.
»Aber nein, so funktioniert das Ganze nicht. Es ist nicht mehr als ein Jahrmarktstrick. Es sind immer nur Möglichkeiten, die Widerspieglung deines Charakters. Deiner Anlagen, wenn du so
willst. Was letzten Endes wirklich passiert, liegt ganz allein bei dir. Die Zukunft ist nicht vorherbestimmt.«
Eine Weile saßen sie noch zusammen, dann zeigte Serpem ihnen die Schlafplätze und löschte die Kerzen. Als sich die Dunkelheit über ihnen ausbreitete, zog Vela die dünne Decke bis zum Kinn. Draußen hörte sie einen Nachtwächter rufen, der sich auf einem Baum niedergelassen hatte, und die Melodie des Waldes drang sanft und dunkel an ihr Ohr. Neben ihr waren bald die gleichmäßigen Atemzüge des Bären zu hören. Ob Cephei schon schlief, konnte sie nicht erkennen, sie sah kaum die Hand vor Augen.
Als sie sich auf die Seite drehte, drückte etwas gegen ihre Hüfte, und ihr fiel das Taschenmesser ein, das sie in die Hose gesteckt hatte. Wie hatte sie das nur vergessen können? Morvan hatte ihr zwar den Hammer abgenommen, aber das Messer nicht. Im Dunkeln schloss sich ihre Hand darum.
Diese vermaledeite Melodie , dachte sie. Man konnte sich ja auf gar nichts konzentrieren. Kein Wunder, dass sie immer wieder Sachen vergaß. Fest nahm sie sich vor, nicht zu schlafen. Der Abend war zwar ohne Schrecken vorübergegangen, aber man konnte ja nie wissen, was Serpem noch vorhatte.
Während Vela in die Dunkelheit starrte, veränderte sich die Melodie, wurde langsamer und schwerer, und schon bald war Vela in einen traumlosen Schlummer gefallen.
EIN ALBTRAUM
Irgendwann in der Nacht erwachte Vela, ein Geräusch hatte sie geweckt. Ängstlich setzte sie sich auf und lauschte in die Dunkelheit,
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