Der Königsschlüssel - Roman
dieses alte Gesetz nicht geändert, das deinen Vater ins Gefängnis gebracht hat, nicht wahr?«
»Aber er wird ihn begnadigen«, presste sie hervor.
Cephei sah, wie sich in ihrem Augenwinkel eine Träne bildete und wie Urs sich verlegen hinter dem Ohr kratzte.
»Sicher wird er das«, brummte der Bär. »Ganz sicher, er ist ein guter Mann und der freundlichste König aller Länder. Ich wollte nur sagen, dass auch er nicht alles sehen kann. Er gibt uns viele gute Gesetze, aber er ist nicht in jedem Einzelfall vor Ort, um alles zu überwachen. Und manche Gesetze ergeben in einem Fall Sinn, im anderen nicht, so wie bei deinem Vater, Vela. Versteht ihr?«
»Du meinst, er ist kein guter König?«, fragte Cephei vorsichtig, der sich nie groß für Politik interessiert hatte, nur für Ritter und ihre Taten.
»Doch, das ist er, er ist der beste, und deshalb müssten wir selbst dann den Schlüssel unbedingt zurückgewinnen, wenn Velas Vater frei wäre.«
Vela sah ihn seltsam an, erst so, als wolle sie ihm eine schnippische Bemerkung an den Kopf werfen wie: »Aber mein Vater sitzt nun mal im Gefängnis!«, doch dann wurde ihr Blick nachdenklich.
Cephei war in erster Linie aufgebrochen, um Abenteuer zu erleben, der genaue Grund erschien ihm nicht so wichtig. Ganz anders die Frage, was sie jetzt tun sollten. Denn sie waren nun hier, und vor ihnen lag diese gefährliche und unheimliche Stadt. Also fragte er: »Aber was ist jetzt mit Sanjorkh? Müssen wir da durch?«
Urs nickte traurig. »Es dauert zu lange, sie zu umgehen. Du siehst doch, wie breit die Wolke am Horizont ist. Und dann wissen wir nicht, ob der Vogel vielleicht doch dort gelandet ist oder gar den Schlüssel über der Stadt verloren hat. Wir müssen seinem Weg so genau wie möglich folgen. Außerdem«, und jetzt lächelte er sein verwegen lässiges Abenteurerlächeln, »wissen wir nicht, was uns auf einem der Umwege erwarten würde. Und besser eine bekannte Gefahr als eine unbekannte.«
Cephei nickte - auch wenn er nicht sicher war, ob ihm Sanjorkh tatsächlich lieber war, und ob sie wirklich wussten, was dort auf sie zukam.
RUINEN UND KÄFER
Zwei Tage später hatten sie Sanjorkh erreicht. Es war unheimlicher, als Cephei sie sich vorgestellt hatte, und vor allem viel, viel größer. Marinth, die größte Stadt des Reichs, wirkte dagegen wie ein Dorf.
Rechts und links erstreckten sich Gebäude, so weit Cepheis Blick reichte. »Niemals kann es so viele Menschen gegeben haben«, staunte er.
Wo waren die denn alle hin? Und wo steckten ihre Enkel und Urenkel? Hier könnten alle Bewohner des Landes leben, und jeder hätte ein Dach über dem Kopf. Aber wahrscheinlich war es besser, kein Dach über dem Kopf zu haben, als in Sanjorkh zu leben.
Das Grün der Wiesen und Goldbraun der Kornfelder war verschwunden, der Boden war kahl und von stumpfem Schwarz, die Stadt selbst schmutzig und grau. Keine einzige Pflanze überwucherte die Ruinen am Rand, und weit hinein konnten sie nicht sehen, weil alles im Schatten der großen Wolke lag. Sie hing tief unter den anderen Himmelswolken, nur ein wenig höher als der größte Turm der Königsstadt.
Die Häuser hier bestanden nicht aus roten Steinen, sondern schienen aus hellgrauen Platten gebaut zu sein. Ein paar farbige Ecken ließen vermuten, dass sie einst bemalt gewesen waren, aber nun wirkten sie trostlos und kahl. Gleich vor ihnen ragte die Mauer eines Gebäudes auf, das mehr als vier Stockwerke hoch gewesen sein musste. Ein Wachturm, vermutete Cephei, doch keine angrenzende Stadtmauer war zu sehen, kein verfallenes
Tor, und die vielen großen Fenster waren auch nicht typisch für eine Außenwand. Zu leicht hätte ein Feind sich hier Einlass verschaffen können. Noch nie hatten sie so etwas gesehen oder auch nur erahnt.
Neben dieser Ruine führte eine Straße in die Stadt. Sie bestand nicht aus Pflastersteinen, sondern aus einer massiven dunkelgrauen Schicht mit fast glatter Oberfläche. Cephei kniete sich hin und fuhr vorsichtig mit der Hand darüber. Es fühlte sich ähnlich an wie Stein, nur irgendwie unangenehm, fremd und tot. Die Straße war so breit, dass leicht sechs Kutschen nebeneinander Platz gehabt hätten.
Cephei stand wieder auf und sah nach Sanjorkh hinein. Nichts bewegte sich dort, auch kein Geräusch drang heraus. Als er sich nach den anderen umblicken wollte, standen sie bereits neben ihm und starrten ebenfalls auf die düstere Stadt. Beide wirkten nicht glücklich.
»Es hilft nichts, wir müssen
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