Der Koffer
denn hier kurzsichtig und trägt seine Brille nie?«
»Wer ist denn hier altersweitsichtig und zu eitel, zum Augenarzt zu gehen?«
Sie balgen wohlwollend ohne das Feuer alter Verliebtheit, bis Rhett sich befreit und wieder das Foto inspiziert.
»Rechts trägt er einen Ring am Ringfinger. Da, die Hand, mit der er die Trompete hält. Warum ist das so wichtig für dich?« Er lässt das Foto sinken. »Warum wolltest du mich heiraten? Damals, in Paris?«
Sonnie ist überrumpelt. Rhett stellt nie solche Fragen, und sie ist froh darüber. Und nun –
It was a good idea at that time.
»Ich weiß es nicht … Ich war verrückt nach dir.«
Sie beißt sich auf die Zunge. Es gibt Türen, die soll man nicht öffnen. Zu spät. Sie war verrückt nach ihm. Damals in Paris. Da war sie noch verrückt nach ihm. Jetzt weiß sie nicht. Rhett ist klug genug, das Thema nicht zu vertiefen. Klug genug oder feige genug.
»Willst du was essen?«
»O, guck mal, da steht was hintendrauf! Eine Adresse. Avenue du President-Wilson, 28 Paris 15E, France. Ob die Fotos alle noch aus seiner französischen Zeit stammen?«
»Ich weiß nicht. Ich kann grad nicht denken. Ich verhungere! Sushi?«
»Nein, danke.«
Dabei hat Sonnie seit dem pappigen Frühstückstoast nichts gegessen. Doch neben Rhett, dem Hungerhaken, fühlt sie sich noch fetter.
I mean, why should we deny ourselves the good things in life? Why can’t we be fat and cheerful?
Sie kann sich das unmöglich anmerken lassen. Noch ein weibliches Klischee, das sie sowohl hasst als auch erfüllt. Noch ein Thema, das sie nicht mit Rhett, das sie nur mit Chola bespricht.
»Frau muss der Natur auffe Sprünge helfen«, sagt Chola. Und hilft. Und hilft. Erst den Bauch, dann die Schenkel, kürzlich sogar die Oberarme. Sie ist wie besessen davon. Sie scheint gar nicht mehr aufhören zu können.
Botox, sagt Chola. Sonnie soll mit Botox anfangen. Das sei vollkommen ungefährlich. Und sie würde wesentlich weniger unfreundlich aussehen, rein von der Anmutung her, wenn die Zornesfalte endlich verschwände. Was aber würde Sonnie tun, wenn sie die Zornesfalte braucht? Etwa im Fall von Zorn? »Das kamma mimisch anders lösen«, sagt Chola.
»Dann mach mal böse«, hatte Sonnie gerufen. »Guck doch mal böse!« Chola hatte mit drolliger Anstrengung versucht, ihre Stirn kraus zu ziehen, aber die Stirnmuskulatur war schlapp geblieben wie das Meer nach dem Sturm.
Sonnie lächelt, als sie daran denkt.
»Dir ist was runtergefallen«, sagt Rhett. »Da! Ist das ein Passbild?«
»Ach, da ist er schon viel älter. Wie alt mag er da sein? Siebzig? Sechzig? Schwer zu sagen. Immer noch Vatermörder und Verführerbärtchen.«
»Also, ich nehm Sashimi und Tempura. Du willst wirklich nichts?«
»Kohlrabi würde ich gern mal wieder essen.« Sie hat das deutsche Wort benutzt. Sie weiß gar nicht, wie »Kohlrabi« auf Englisch heißt.
»Coll … was?«, fragt Rhett.
Er hat nie Interesse an ihrer Muttersprache gezeigt. Von Anfang an nicht. Das macht Sonnie plötzlich zornig. Sie nimmt einen Zettel, schreibt in eckigen Versalien KOHLRABI und legt ihn neben das Telefon. Rhett, unaufmerksam, legt das Menü des Japaners darauf. Er hält den Hörer schon in der Hand.
Er ist töricht, denkt Sonnie. Er ist ignorant. Sienimmt das Passbild vom Koffermann und steckt es in die Handtasche, die Rhett ihr zum 39. Geburtstag geschenkt hat. Sonnie Woodhouse hat er hineinsticken lassen.
Rosemary’s Baby . Hat sie Jake geheiratet, weil er Woodhouse hieß wie Rosemary? Hat sie sich in Rhett verliebt, weil er Rhett Butlers Namen trägt?
Rhett wählt die Nummer. Er weiß nichts von ihrer Diät. Er weiß ja nicht mal von ihrem Komplex. Er wäre sicher enttäuscht, dass sogar »eine Frau wie sie«, so nennt er Sonnie, nicht gefeit ist gegen die Schlankheitsdoktrin.
»Hier, das ist der kleine Junge«, ruft sie. »Der Sohn. Steht auch hintendrauf. Jacques Muller-Klein. Klingt deutsch.«
Auf dem Schwarzweißfoto ist der Koffersohn schon ein Teenager. Bildfüllende Afrokrause. Trotziger Gesichtsausdruck. Runde junge Stirn. Rissige, helle, aufgeworfene Lippen, die ein sarkastisches Lächeln umspielt. Breiter dunkler Nasenrücken. Die geballte Rebellion der Jugend in den Augen. Ein Foto wie ein Jimi-Hendrix-Cover. Was mag aus ihm geworden sein?
»Ich finde, er sieht sympathisch aus. Mir ist er sympathisch«, sagt Sonnie zu sich selbst.
Im Hintergrund bestellt Rhett leicht ungehalten über das Pidgin-Englisch des Asiaten am
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