Der Koffer
heute Valeries Brief übersetzt. Der Hund hat … da ist der Hund, siehst du? Er hat …«
»Ach, wie geht es Chola? Lässt sie immer noch an sich rumschnippeln?«
Sonnie wird unwohl. Es kommt ihr vor, als hätte sie Chola verraten. Dabei hat sie Rhett nur davon erzählt, um ihn zu einer Bemerkung zu nötigen wie: Mach du das ja nicht! Immerhin war sein Kommentar, er fände so was im Allgemeinen unnötig.
Im Allgemeinen. Sonnies Daumen klopft. Sie reißt das Pflaster ab. Der Daumen ist rot und geschwollen mit nässender Wunde.
»Seit dem Augenlifting scheint sie sich eine Pause zu gönnen. Und der kleine Junge ist sicher Jean-Jacques, ihr Bruder. Jacques nach Jacques Cohen! Warte mal …«
Sie geht ganz nah an das Bild heran. »Da hat er noch beide Ohren. Wie alt mögen die Kinder sein auf dem Foto?«
»Ohren? Ach, was weiß ich. Noch nicht in der Schule.Drei und fünf vielleicht? Ieeeeh, das sieht aber gar nicht gut aus!«
»Nix weiter, nur ein kleiner Schnitt«, sagt Sonnie, verärgert über Rhetts Ekel. »Die Kinder sind auf jeden Fall älter. Vier und sieben.«
Rhett lacht auf. Tonlos. Asthmatisch.
»Wir beiden Spezialisten«, sagt er.
»Bis wann war er in Europa?«
»Ende der Fünfziger, so was. Könnte hinkommen.«
»Dann wäre der Junge jetzt in meinem Alter. Und das Mädchen Mitte vierzig. Sie sieht wirklich weiß aus. Helles Haar, blasses Gesicht. Der Junge rabenschwarz, mit Afrolook. Große Augen. Die Mutter würd ich zu gern sehen. Ist nicht drauf.«
»Na, warum wohl?«
»Stimmt, die hat das Foto gemacht. Und das andere Foto sieht auch aus, als sollte es eine Autogrammkarte werden. Wo ist eigentlich die Autogrammkarte?«
»Irgendwo in dem Gewusel.«
»Kuck mal, wie der die Haare hat! Mit Brillantine geglättet und eine Tolle vorne.«
»Möchtest du, dass ich mein Haar auch so trage?«
»Trag es, wie du willst, Hauptsache anders als jetzt.«
Rhett lacht. Lautlos. Leidenschaftslos. Das ist es, denkt Sonnie traurig, ich werde verglühen an lauwarmen Männern. Und was kommt dann?
»Die Fohlen«, hört sie Chola kichernd sagen. »Dann kommen die Fohlen!«
Sonnie reißt sich zusammen. »Und der Schnauzbart«, sagt sie und tippt auf das Foto.
»Deutsch. Wie Hitler!«
»Quatsch, du siehst aus wie Hitler, weil deine Nase so einen großen Schatten wirft! Erstens war Hitler kein Deutscher, zweitens ist das ein französisches Bärtchen, viel breiter und viel dünner. Wie heißt der Franzose nur …«
»Maurice Chevalier.«
»Nee, Monbijou … Monsegnet …«
»Ach der! Menjou, Adolphe Menjou.«
»Kann sein.«
»Berühmter Mann.«
»Hier hat er die Trompete in der Hand.«
»Schauspieler.«
»Wer?«
»Adolphe Menjou. Er wurde neun Jahre am Stück zum bestgekleideten Mann Amerikas gewählt.«
»Ist das ein Ehering? An welcher Hand trägt man den Ehering?«
»Keine Ahnung.«
Rhett lockert seinen Griff.
»Wie du weißt, bin ich nicht verheiratet. War es nicht links? Ehering links, Verlobungsring rechts?«
»In Europa, ja. In Amerika andersherum.«
»Musst du doch wissen. Du warst doch verheiratet.«
»Ich habe keinen Ring getragen. Außerdem ist das lange her.«
»Du bist vor drei Monaten geschieden worden.«
Sonnie sieht Jake vor sich. Mit seinem Kopfverband und dem Gipsbein. Wie sie ihn stützt. Wie sie lachen. Es ist Sommer. Hochsommer. Sie trägt ein gelbes Retrokleid von Search & Destroy. Er humpelt. Und sie lachen. Alle anderen Passanten schwitzen und ziehen Gesichter, nur Jake und sie lachen. Jetzt weiß sie es wieder. Esdurchzuckt sie wie ein Blitz. Sie liebte Jake. Einen Tag lang liebte sie Jake.
»Die Begleitperson für Herrn Woodhouse«, hatte die Krankenschwester durch die Intercom des Wartezimmers gerufen. Woodhouse – ein magischer Name. Der Nachname von Guy und Rosemary in Rosemary’s Baby . Immer wieder rief die Frauenstimme aus dem Lautsprecher nach der Begleitperson für Herrn Woodhouse. Niemand fühlte sich angesprochen. So kam es, dass Sonnie, die mit dem Fitnessstudio-Besitzer Alfred, einem One-Night-Stand mit akutem Blinddarm, ins Krankenhaus gekommen war, es mit der Unterschenkelfraktur Jake Woodhouse verließ. Sechs Jahre war sie mit Jake verheiratet, einem politisch engagierten Vegetarier und Film liebenden Programmkinobesitzer, mit dem sie politisch engagiert, vegetarisch und Film liebend lebte.
Rhett nimmt das Foto. Er hält es weit von sich weg.
»Das ist kein Ring. Das ist ein Bildfehler.«
»Das ist kein Bildfehler, du Blindschleiche.«
»Wer ist
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