Der Koffer
Würde sie den Schauspielern persönlich begegnen, es wäre ihr egal. Trotzdem, sie kann sehr wohl schwärmen, wie ein Teenager kann sie schwärmen, und zu einer ihrer peinlichsten Erinnerungen gehört es, als Martin Scorsese im Gefolge einer Partymeute Backstage auf einem Konzert von U2 auftauchte und Sonnie, anstatt sich ihm zu nähern – sie kannte mindestens zwei seiner Begleiter –, hyperventilierte und die Flucht aufs Klo antrat. Manchmal überfällt sie die Scham wie ein Fieberschauer, sie ruft das Bild zurück, den kleinen alten Mann mit der Fistelstimme im Lichtkreis, wie ein magischer Gnom, sie draußen im Dunkeln, der Ohnmacht nahe, ein Groupie.
That’s one of the greatest curses ever inflicted on the human race: memory.
Jemand hämmert gegen die Tür.
»Ich mach schon«, ruft Rhett. Sonnie hört eine chinesische Frauenstimme quaken. Rhett kommt zurück, verlegen, wie es scheint, in den Händen hält er einen feisten Jade-Buddha, der in einem Miniatur-Steingarten hockt.
Sonnie pfeift anerkennend durch die Zähne. »Schön scheußlich.«
»Ja«, murmelt Rhett. Nun muss er sich auch noch als Lebensretter feiern lassen, nach der gruseligen Nacht mit Gong, den er nur ins Krankenhaus begleitet hat, weil er selbst ohnmächtig war. Hoffentlich fragt sie nicht, denkt er.
Sonnie merkt, dass aus dem Koffer ein Zipfel des Seidentuchs heraushängt. Es gelingt ihr, aufzustehen.
»Hast du eigentlich schon im Koffer gewühlt, seit du zu Hause bist?«
»Noch nicht. Wollte auf dich warten.«
Rhett verstaut das Buddha-Ungetüm unterm neuen Bett.
Sonnie steckt die Rachmaninoff-CD in den Schacht und drückt PLAY. Fast umtanzt sie den Koffer zur Musik. Den hat ihr der Himmel geschickt. Es ist ganz einfach, denkt Sonnie, man muss sich nur erinnern.
Rhett trocknet ab.
Sonnie öffnet den »Lady Baltimore«.
Sie sieht den Handspiegel. Sie nimmt ihn am Knauf. Der Knauf ist schwer und kompakt. Was mag der Spiegel gesehen haben? Woran ist er erblindet? Ihr Blick fällt auf das Innere des Kofferdeckels. In das purpurfarbene Seidenfutter ist eine Tasche eingenäht, von einem straffen Gummizug zugehalten. Sie wölbt sich. Sonnie lässt den Handspiegel zurück in den Koffer gleiten. Sie greift in die Tasche.
»Rhett? Kommst du mal?«
Rhett kommt näher. Er hebt die Schallplatte mit spitzen Fingern auf. Er hält sie ins Tageslicht. Er betrachtet sie.
»Da sind ja alle beide Rachmaninoff-Klavierkonzerte drauf, das 2. und das 3., genau die beiden. Die Aufnahme von Horowitz 1951. War die im Koffer?«
»Hier, Fotos. Ich hab Fotos gefunden! Hab ich gestern gar nicht gesehen … Da, das ist er! Der Koffermann!«
»Jacques Cohen.«
Nicht ohne Stolz memoriert Rhett den Namen.
»Hier auf den Notenpulten steht PARIS – NEW YORK – BERLIN. Mit seiner Band, er hatte eine Band. Er selber hat gar nix in der Hand. Wo ist seine Trompete?«
»Liegt sicher irgendwo. Da, auf dem Flügel.«
»Rechts neben ihm steht ein Saxofonist. Hinten links der Schlagzeuger.«
»Und siehst du da? Der Mann am Flügel? Links hinter seinem Arm? Der kleine Kopf, der da vorguckt?«
»Wo denn?«
Rhett steckt seinen Krakenarm an Sonnies Hals vorbei, um auf das Bild zu zeigen, wobei er sie leicht würgt: »Na, da!«
»Ach, da! Ob das Duke Ellington ist?«
»Niemals!«
»Dreh mal um, das Foto.«
»Steht nix drauf. Von wann mag das sein?«
»Weiß nicht, Fünfziger? … Hast du eigentlich Fotos von deiner Familie?«
Erschrocken über ihre eigene Frage schließt Sonnie die Augen. Einmal im Jahr, wenn sie seine Familie zur Sprache bringt, geht Rhett weg. Oder er ertaubt. Oder er verstummt für Tage. Oder er ignoriert die Frage.
»Hier, alle im Anzug«, sagt Rhett. »Nur Cohen im Smoking. Weil er der Chef ist wahrscheinlich. Der Solist. Mit Vatermörder, weißer Krawatte, Krawattennadel.«
»Ja, und hier, der Saxofonist mit Fliege«, sagt Sonnie erleichtert.
»Und der Schlagzeuger im Anzug mit dunkler Krawatte«, sagt Rhett.
»Zeig mal das kleine quadratische.«
»Das ist er! Das müssen seine beiden Kinder sein! Das Mädchen da? Sie steckt die Zunge raus. Valerie. Seine Tochter. Sieht weiß aus. Vielleicht ist ihre Mutter eine Weiße. Oder sehr hell. Sieht aus wie Europa, siehst du das Haus im Hintergrund?«
»Ja, und den Mann im Unterhemd, der hinten den Garten umgräbt, oder was.«
»Das Haus sieht nach Villa aus.«
»Der Mann sieht nach Gärtner aus.«
»Stimmt. Weiße Haut. Könnte auch der Großvater sein in Versailles, Chola hat mir
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