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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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veränderbare Ausbuchtung aus Haut, Schwellkörpern und Blutgefäßen?
    Sonnie schließt die Augen. Sie ist neun. Sie trägt einen Pferdeschwanz. Sie trägt ein Sommerkleid mit Marienkäfern. Sie spielt Mau-Mau mit Andreas, dem Nachbarjungen. Er ist zwölf oder dreizehn. Er trägt eine Turnhose und sitzt breitbeinig auf der Wiese. Die Hose gibt Einblick in seinen Schritt. Hautgebaumel! Ein Euter? Eine Geschwulst? Sonnies Augen weiten sich unter dem grauenhaften Anblick. Sie kann den Blick nicht abwenden. Andreas folgt Sonnies Blick. Andreas droht Sonnie schelmisch mit dem Zeigefinger. Er sagt: »Nanana!«
    Sie greift nach dem dritten Foto, ihr Blick bleibt an der rechten Hand hängen. Sie hat Männerhände. Rhett hat Frauenhände. Es ist absurd. Seine feingliedrigen Spinnenfinger mit blassen Monden, ihre Cevapcici-Finger mit zerbissenen Kuppen. Sonnie beißt sich die Finger blutig, seit sie denken kann.
    Nach dem Tod des Großvaters tat sie es das erste Mal. Lange starrt sie ihre Hände an. Sie sind tapsig und beweglich wie kleine Tiere. Sonnie will herausfinden, was an der rechten Hand schöner ist. Vielleicht schmeckt sie besser. Aber sie schmecken beide gleich.
    »Links ist da, wo der Daumen rechts ist«, sagt der Großvater.
    »Hände betrachten bringt Unglück«, sagt die Mutter.
    Die Mutter biegt ihre Arme nach unten.
    Die Mutter schlägt ihr auf die Handrücken.
    Die Mutter ohrfeigt sie, wenn die Finger bluten.
    Das dritte Foto zeigt zwei nebeneinander liegende Frauen, beide spreizen die Beine wie die Hebel eines Korkenziehers, die Schöße der Kamera zugewandt. Die linke Frau ist dunkelhaarig und ähnelt der Frau vom ersten Bild. Der vorspringende Unterkiefer der zweiten verleiht ihr einen tumben Gesichtsausdruck. Auf ihnen, kopfüber, den pomadigen Kopf gen Kamera gereckt, liegt ein Mann, mit hoher Wahrscheinlichkeit der von Foto eins und zwei, bekleidet mit Hemd und Hosenträgern. Synchron versenkt er in beide Frauen schwarze Dildos. Die Frauen machen angestrengte Gesichter.
    Kontrolle und Kontrollverlust. Sonnie sieht Rhetts Augen wegklappen. Sonnie sieht Rhetts Schläfenadern schwellen. Er pumpt einem Orgasmus entgegen. Er entgleist.Sein Gesicht wird weit und klar. Alles ist offen: Augen, Nüstern, Mund. Er hat sein Clownsgesicht.
    Aber das andere Gesicht. Das Betrügergesicht. Ein Männergesicht, in dem sich Anerkennung und Neid mischen. Das Grinsen und Kopfschütteln beim Betrachten der Pornobilder. Ein Wüstling, denkt Sonnie. In seinem Koffer wären Pornobilder. Und ein Männertaschentuch. Zum Wichsewegwischen.
    Der Gebrauch des altmodischen deutschen Wortes »Wüstling« verschafft Sonnie Erleichterung. Sie wiederholt das Wort. Sie sagt halblaut: »Wüstling! So ein Wüstling!«
    Hat der Koffer nicht anders gestanden, hing nicht vorhin das Seidentuch heraus? Rhett hatte die Bilder womöglich längst entdeckt und studiert, hatte masturbiert und sie wieder zurückgelegt.
    Faszination für Pornografie ist männlich. Frauen, die behaupten, Pornografie rege sie an, sind für Sonnie traurige Claqueure. Die Pornolüge. Sonnie kennt sie. Sie hat sie auch schon benutzt. Sie ist auch eine Porno-Claqueurin gewesen, hier und da, wenn es sich anbot, wenn es sich empfahl. Dabei war das Einzige, was sie erregt hatte, die Erregung des Mannes gewesen, mit dem sie den Pornofilm sah – und die galt gar nicht ihr. Entweder sie ist wirklich verklemmt, oder Rhett ist pervers. Wartet er nicht fünf Meter entfernt gerade darauf, dass Marilyn Monroes Rock überm Windstoß des Subway-Schachts hochflattert und einen Blick freigibt auf ihre saftigen Schenkel? Wird er den Saft dieser Schenkel nicht mit ins neue Bett bringen? Steht nicht der Koffermann, der Wichsvorlagen im Handgepäck hat, währendin Paris Frau und Kinder warten, symbolisch für alle Männer?
    Nein, sie ist nicht verklemmt. Sie ist…
    … kultiviert, so drückte sich Rhett damals aus, als sie sich kennen lernten. Sie sei die einzige kultivierte Person am Tisch. Sie hingegen fand ihn angenehm unmännlich. Es war ein Treffen bei diesem durchgeknallten Künstler, Matthew Barney, der jährlich zum Thanksgiving-Dinner lud. Sonnie hatte die deutsche Ausgabe seines Bildbandes in die Wege geleitet, Rhett war als Beuys-Kenner geladen, die anderen Leute sahen aus, als hätte Matthew Barney sie direkt aus Fellinis Casting-Kartei gebucht.
    Sonnies Kultiviertheit drückte sich vermutlich darin aus, dass sie als Einzige Messer und Gabel benutzte, während die anderen

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