Der Koffer
So-nicht-mehr-sondern-irgendwie-anders-Attitüde hatte sich Rhett verliebt.
Anfangs hatte Sonnie das Feld zwischen Rhett und sich komplett vermint. Sie diktierte ihm ihre Bedingungen, ihre Abneigungen. Sie erklärte ihm apodiktisch, was nicht drin sei, was er sich abschminken könne, was jedoch unbedingt sein müsse, wenn man sie erobern wolle, und zwar so und so. Sie tat das gegen ihre Natur, sie tat es gegen die Natur der Liebe, weil sie dieser zuvorkommen wollte, bevor sie sie blöd machen würde. Sie tat das aus Selbstschutz, aus Angst davor, weich zu werden und gewöhnlich und in alte Muster zurückzufallen, die sie inzwischen erkannt hatte. Die meisten der von Sonnie gestreuten Minen waren Blindgänger gewesen.
Dennoch. Wieder sitzt sie in der Falle, aber diesmal, ganz wie beschlossen, in einer neuen. Sie fragt ihn nichts. Sie betrachtet Rhett wie ein abstraktes Gemälde. Sie kann Rhett nicht deuten, und sie versucht es auch nicht. Sie will den unergründeten Rhett, den Rhett im Jetzt, nicht den von gestern. Was sie nicht weiß, kann sie auch nicht kopieren. Was sie nicht kopiert, wird sie auch nicht langweilen. So wäre er ein Geheimnis für sie und sie eines für ihn, und sie würden sich lieben bis zum Tod, und dann würde Sonnie weitersehen.
Der Koffer, schießt ihr durch den Kopf. Den ganzen Tag über hat sie sich gefreut darauf, weiter in ihm herumzuwühlen,und nun hat sie gar nicht mehr daran gedacht. Ob Rhett ihn auch vergessen hat?
Der massierte Fuß prickelt belebt, der andere hängt vom Sofa wie ein totes Tier. Die Leblosigkeit kriecht in Sonnie hoch. Ich muss meine Vergangenheit wiederfinden, denkt sie, bevor sie mich findet. Sie knetet ihren eingeschlafenen Fuß.
Rhett ruft etwas. Das Wasser plätschert. Sie versteht nicht.
»Was?«
»Ich hab was für dich.«
Der Koffer steht nur fünf Meter entfernt. Sonnie sieht sich außerstande, aufzustehen und hinzulaufen.
»Was denn?«
»Liegt vor dir. Neu auf DVD.«
Sonnie hebt mit großer Anstrengung den Kopf. Der Koffer hat eine andere Position als am Morgen. Sie schafft es, sich aufzurichten, und wirft einen Blick auf die umgedrehte Getränkekiste. Ihr Blick schweift von der bunten Plastikhülle, auf der sich Marilyn Monroes Rock aufbläst, zum Koffer. Argwohn macht sich in ihr breit und erfüllt sie wieder mit Leben.
»Ein Monroe-Film?«
Rhett wendet sich um. Auf seinem T-Shirt steht EAST VILLAGE.
»Na, wegen Rachmaninoff doch«, sagt er. »Der Held träumt davon, Marilyn zu verführen, ich weiß nur nicht mehr, ob zum zweiten oder zum dritten Klavierkonzert.«
Sonnie hat das T-Shirt nie zuvor gesehen an ihm. Als Uptown-Mensch verachtet Rhett das East Village.
Im East Village ging alles los. Nicht mit ihr und Rhett, noch lange nicht mit ihr und Rhett, aber mit ihr und der Queen. Sonnie hatte damals gehört, dass Madonna im East Village wohnt. Wo Madonna wohnt, da ist es gerade gut genug für mich, hatte sie gedacht. Sie fand ein fensterloses Zimmer für 100 Dollar, 155 Avenue A, zur Untermiete, bei einem kiffenden Künstlerpaar aus Warschau. Ihr neues Heim hatte etwas vom Pathos der Tellerwäscherkarriere. Sie erinnert sich jetzt. An viele Abende in der verlotterten Wohnung. Neben dem Baby, dem vom Vater sporadisch warmes Bier verabreicht wurde, damit es besser schliefe. Dort war es, wo sie die Filmzitate paukte, um ihr Englisch zu verbessern.
Sie liebt Filme. Es gab immer wieder Phasen, in denen sie annahm, ernsthaft vermutete, dass Kino schöner sei als das Leben. Das hatte sie mit Jake geteilt: die Liebe zum Kino. Das sind die Dinge, die bleiben, denkt Sonnie mit einem Anflug von Wehmut, Impotenz hin oder her.
Rhetts Vorliebe für Marilyn Monroe enttäuscht sie.
Für Schauspieler zu schwärmen, erscheint Sonnie albern. Für eine Sexbombe zu schwärmen, ist obendrein banal. Sie diskutiert Dinge wie diese nicht mit Rhett. Sie diskutiert sie mit Chola, die stets kleine spitze Schreie ausstößt, wenn das dreieckige Gesicht von Johnny Depp auf der Leinwand erscheint.
»Kannst einfach nich schwärmen, arme Sau«, sagt Chola dann immer und tippt ihr begütigend auf den Scheitel, aber das ist nicht wahr. Sonnie kann sehr wohl schwärmen. Für Regisseure, die auf Schauspielern Klavier spielen, oder für Helden. Es ist nicht CrispinClover, den sie verehrt, es ist sein »Bartleby«, es ist nicht Anton Walbruck, es ist sein Boris Lermontov in Die roten Schuhe . Es ist nicht Elliot Gould, es ist sein Phillip Marlowe in The Long Goodbye .
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