Der Koffer
haben die Köpfe zur Wand gedreht, vom Betrachter weg, man sieht aber, dass sie lachen. Die Frau hält einen Spiegel in der Hand. Der Mann macht Schattenspiele mit erhobenen Fingern. Die Spitze seines dünnen und dunklen Geschlechtsteils steckt zwischen den Schenkeln der Frau.
Sonnie fürchtet sich, beim Betrachten der Fotos erwischt zu werden. Sie drückt auf PAUSE. Sie lauscht. Marilyn Monroes debiles Kichern ist zu hören. Der erste Satz des 2. Klavierkonzerts ist zu hören, genau der, den Sonnie auch gerade hört.
Rachmaninoff … It isn’t fair … Every time I hear it, I go to pieces … It shakes me, it quakes me. It makes me feel goosepimply all over.
Sonnie drückt wieder auf PLAY. Es ist von allem zu viel, denkt sie. Die Musik beginnt, sie einzulullen. Der Rotwein tut das Nämliche. Die Bilder verschwimmen, lösen sich auf, formen sich neu.
Sonnie ist neun. Sie malt Nackte in das Vokabelheft ihres Banknachbarn. Dann in das ihres Vordermanns. Ihres Hintermanns. Die Nachfrage ist groß. Sonnie nimmt pro Zeichnung eine Mark. Für zwei Mark zeichnet sie Paare beim Liebesakt. Woher weiß sie, was das ist, ein Liebesakt? Woher weiß sie, wie Paare beim Liebesakt aussehen? Ihre Zeichnungen fallen dem Lehrer in die Hände. Herr Wetterling. Er sagt, er ist enttäuscht. Er bestellt Sonnies Eltern in die Schule.
I was just expressing a healthy sexual curiosity.
Sonnie schlägt die Hände vors Gesicht. Sie hat sich oft vorgestellt, wie die Eltern vor dem Lehrer gesessen hatten, bleich, stumm, gerade, die Lippen aufeinander gepresst, um das Unerhörte zu erfahren. Der Vater mit Lesebrille und Seefahrerbart. Die Mutter mit tief liegenden Augen und Nackenknoten.
Ich leg dich gleich übers Knie.
Sonnie hat nie aufgehört, sich zu schämen. War das das letzte Bild, das die Mutter von ihr im Kopf hatte, als sie starb? Ihre schweinischen Zeichnungen im Vokabelheft?
Der Mann auf dem Foto hat kurzes pomadiges Haupthaar, dunkles, wild wucherndes Schamhaar und stark hervortretende Oberschenkelmuskeln. Sein restlicherKörper ist schmächtig wie Rhetts. Die Frau hat kleine, leicht hängende Brüste und einen flachen weichen Hintern. Ihre Haare sind schulterlang und gelockt.
Sonnie hört den zweiten Satz des 2. Klavierkonzerts. Sie schließt die Augen und sieht träge zitronengelbe Flüssigkeit, aus der sich eigroße Tropfen formen. Die Tropfen lösen sich von der Masse, fallen jedoch nicht, sondern schweben wie mit Helium gefüllte Ballons über ihr. Man muss in der Tat betrunken sein, um das zu ertragen, denkt sie.
Es kommt ihr vor, als sei die Musik ein Stück Soundtrack zu ihrem Lebensfilm. Als sei darin eine Botschaft versteckt, und sie sei außerstande, sie zu lesen. Sie trinkt das zweite Glas Rotwein. Sie betrachtet das zweite Foto. Eine Frau liegt seitlich auf dem Schoß eines Mannes. Vor ihr liegt ein anderer Mann. Er versucht, sein mäßig erigiertes Geschlechtsteil vorbei an ihren Strapsen, vorbei am Zwickel ihrer schwarzen Spitzenunterhose in sie hineinzuschieben. Der erste Mann, auf dessen Schoß die Frau liegt, quetscht mit der rechten Hand ihre rechte Brust zusammen. Die Frau hat dichtes schwarzes langes Haar mit Pony. Herbes Gesicht, klare Botox-Indikation, würde Chola sagen. Ein Ausdruck akademischer Strenge liegt in den Zügen der Frau. Wie ein Modell sieht sie nicht aus. Eher wie eine Doktorandin, die sich etwas dazuverdient. Sie ähnelt der jungen Simone de Beauvoir.
Der Brustquetscher, dessen Mund sich von rechts dem Gesicht der Frau nähert, ist der Pomadenmann vom ersten Foto. Geigenklänge hüllen das Bild in Hilflosigkeit.Sonnie ist traurig. Sonnie möchte schluchzen mit den Geigen. Sex ist prosaisch. Rhett ist der Brustquetscher. Rhett ist der Pomadenmann. Sonnie ist Simone de Beauvoir. Besser sieht das auch nicht aus, wenn sie es machen.
Der zweite Mann hat eine dunkelblonde Lockenfrisur, die sich in der Stirn kräuselt, lacht verlegen, während er sein Geschlechtsteil justiert, und zeigt dabei eine fest auf seinen Frontzähnen sitzende Zahnspange. Bei Rachmaninoff kündigt ein Crescendo Vollzug an.
Sonnie hat sich seit der Schule nie wieder für Penisse interessiert. Es sei denn, sie hingen an Männern, die sie liebte. Das Bedürfnis von Freundinnen, anatomische Eigenheiten von Männern detailliert zu vergleichen und zu bewerten, war ihr fremd und abstoßend. Diesbezügliche Fragen sah sie sich außerstande zu beantworten. Warum so viel Aufhebens um einen Körperzipfel, eine taktil
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