Der Kofferträger (German Edition)
verloren. Aus dem Treppenhaus des Turms gingen keine weiteren Fenster nach draußen. Nur Türen nach innen, zu irgendwelchen Räumen. Wieder liefen sie die einhundertsiebzehn Stufen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie oben ankamen. Beim Anblick des toten Mannes würgte Corinna. Sie eilte zum Fenster. Der Tote hatte seine Blase und seinen Darm entleert. Es stank fürchterlich in ihrem Kerker.
Jürgen löste den Gürtel von der Hose des Wächters. Den Gürtel knotete er an den Strick, ebenso seinen eigenen Gürtel, den Schlüsselbund an das eine Ende seiner Leine. Er ging zum Fenster, stellte sich auf die Fensterbank.
An jeder der sechs Ecken des Turmes hatte das Dach einen Überhang, der von einer Balkenkonstruktion gestützt war. Die Konstruktion zeigte unter den Dachpfannen ein Stück waagerechten Balken von der Mauer bis zum Dachende. Corinna hielt ihn an der Kleidung am Bauch fest und zog ihn mit beiden Händen an, als wollte sie ihn in das Zimmer zurückreißen. Mit einer Hand hielt sich Jürgen unter dem Fensterrahmen fest. Mit der anderen versuchte er, mit dem Schlüsselbund als festgeknotetes Wurfgewicht die Leine über den Balken zu werfen. Einmal, zwei Mal, drei Mal. Beim vierten Mal flog das Gewicht des Schlüsselbundes über den Balken. Als erfahrener Segler hatte er genügend Leine gegeben, sodass der Bund mit Gürtel und einem Stück Leine weit hinaus schwang und bis zu ihm zurückkehrte. Jürgen musste seine Haltehand einen Augenblick loslassen und griff mit der freien Hand nach dem Schlüsselbund und bekam ihn zu fassen. Er hatte beide Enden zwischen seinen Fingern.
Das zusätzliche Körpergewicht konnte Corinna aber nicht halten und der Hosenbund rutschte aus ihrem Klammergriff. Jürgen verlor das Gleichgewicht, neigte sich nach außen und stürzte von der Fensterbank, auf der er gestanden hatte. Unter ihm zwanzig Meter freier Fall. Noch hielt er beide Enden seiner Leinenkonstruktion in den Händen. Bei seinem Sturz fasste er fester zu. Die Mitte der Leine lag sicher über dem Balken. Fallend schwang er durch die Lüfte auf den Balken zu. Seine Leinenkonstruktion hielt. Er pendelte aus und befand sich etwa einen halben Meter unter dem Balken. Seine Hände waren in Schweiß gebadet. Jetzt musste er sein Eigengewicht jeweils mit einer Hand an den beiden Enden halten, während er mit der anderen nach oben fasste. Dann hielte er sich mit dieser Hand und griff mit der anderen nach. Seine Finger verkrampften. Noch ein Griff und er konnte mit einer Hand um den Balken greifen, der vielleicht zehn Zentimeter Kantenlänge hatte. Seine Kräfte wuchsen ins Übermenschliche.
Er hing unter dem Balken, zwanzig Meter über dem tödlichen Abgrund. Aber wie sollte er jetzt von dieser unmöglichen Position auf das überstehende Dach klettern?
Er müsste sich gleichzeitig festhalten, nach außen schwingen, nach oben greifen und sich dort irgendwie anklammern. Unmöglich. Er wechselte die Hand und hing jetzt mit der rechten Hand an dem Balken. Mit Wucht jagte er die linke Faust von unten gegen die Dachziegel. Nacheinander lösten sich einige, stürzten auf den Platz unter ihm und zerbarsten mit schrillem Schrei. Die Knöchel seiner Finger bluteten. Sie waren aufgeplatzt. In die rechte Hand hatten sich einige Splitter aus dem rauen Balken gebohrt. Auch die Hand begann zu bluten. Das Blut rann über die Arme auf seinen Körper. Dazu stank der schmutzige Ledergürtel des Toten.
Der Bruch eines Fingers oder eines Mittelhandknochens wäre jetzt eine Katastrophe. Wieder schlug er unter die Pfannen. Dann lagen drei Sparren frei. Er zog sich zwischen ihnen hoch und quetschte sich hindurch. Jürgen saß auf dem kleinen Dach und atmete tief durch. Seine Hände und Arme schmerzten. Für eine Erschöpfung hatte er keine Zeit. Er zog sich einige Splitter aus der rechten Hand. Sonst könnte er bei nächster Gelegenheit nicht fest zufassen.
*
Corinna hatte Jürgen an Hemd und Hose vor seinem Bauch festgehalten. Dann sah sie mit Entsetzen, wie er seine Haltehand am Fenster plötzlich löste und nach hinten überkippte. Sie wusste nicht, warum er das tat. Das plötzliche Gewicht war zu groß. Ein Fingernagel brach ab, ein Schmerz jagte durch ihre Finger und sie spürte, wie ihr Hemd und Hose aus den Fingern glitten. Jürgen verschwand nach hinten und sie lauschte mit Entsetzen auf den brutalen Aufschlag seines Körpers in der Tiefe. Doch der blieb aus. Sie schaute hinaus und sah ihren Freund an dem provisorischen
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