Der Kofferträger (German Edition)
Nikolskoe.
Leidenschaftlich gerne tauschte Anita inzwischen mit Tante Marga im Wintergarten von Charlottenburg Pudding- und Kuchenrezepte aus. Es waren ihre liebsten Stunden, wie sie stets versicherte. An diesem Nachmittag war auch der Kanzler in seinem Heim. Die Frau des Generalbevollmächtigten zog sich mit H. B. in dessen Büro zurück.
„Du musst ihm langsam sagen, warum er sich wirklich anstrengen muss“ , drang der Kanzler auf sie ein.
„Diese Aktionen sind noch lange nicht abgeschlossen“, die Nichte des Kanzlers hatte die Mundwinkel verächtlich heruntergezogen.
„Er muss doch allmählich merken, welches das große Ziel ist.“ H. B. entflammte ein langes Partystreichholz, um eine Zigarre anzuzünden. Ein paar Mal paffte er genüsslich aus, drehte die Zigarre um und blickte auf die Glut. Dabei griff er sich an die rote Narbe über dem rechten Auge, als wollte er eine hässliche Erinnerung verbergen.
„Das langsame Merken kann gefährlicher werden. Besser er wird auf einmal in deinem Beisein mit der Wahrheit konfrontiert. In einer glücklichen Stunde, wenn er gerade wieder einmal realisiert, wie gut es ihm geht.“
„Du glaubst gar nicht, welch kleiner Junge er im Herzen ist. Die Welt ist für ihn ein Spielplatz zum Rutschen und zum Schaukeln.“
„Genau das ist es. Seine kleine Welt der Treue und Rechtschaffenheit hat mit der wirklichen Welt absolut nichts gemein. Er ist ein Kindskopf. Ich muss feststellen, wir haben vor Jahren eine Fehlentscheidung getroffen. Die gilt es zu korrigieren. Es gibt zwei Alternativen. Die eine: Ich komme nicht umhin, ihn in die wirkliche Geschäftswelt einzuweihen.“ H. B. schaute über den großen Teich vor seinem Fenster. Die zweite Alternative ließ er dabei noch offen. „Dabei hoffe ich noch immer, er begreift endlich, was wir in diesem Lande zum Wohle der Menschen entscheiden müssen. Ist er Fisch oder Fleisch?“
Er schaute seine Nich te an, wartete auf eine Antwort.
„Er ist Fisch, wird nie Fleisch werden.“
Die kalte Beurteilung seiner Nichte über ihren Mann ließ selbst den hart gesottenen Politiker erschauern.
„Du hast ihm doch gerade erst das kleine Geschenk mit der Yacht gemacht.“
„Ich kam nicht umhin, ihm mit dieser kleinen Gabe auf den Zahn zu fühlen. Es war notwendig, seinen Weg in die Zukunft zu testen.“
„Was ist das Ergebnis?“
„Er hat nichts begriffen. Er versteht unter dem Weg, den er gehen soll, eine Weltumseglung.“
„Also eine Fehlinvestition“, H. B. hatte schon mehrere ähnliche Entscheidungen, die klare Alternativen erforderten, in seinem Leben getroffen.
„Was die Yacht anbelangt, nein. Was den Mann anbelangt ja. Wir müssen uns tatsächlich entscheiden. Er liebt mich.“ Die letzte Aussage machte sie, als würde dadurch vieles vereinfacht werden.
„Du ihn auch?“ H. B. war bereits dabei einen Plan zu verwirklichen.
„Er langweilt mich.“
„Wenn er aber mitspielt?“
Die Nichte des Kanzlers öffnete ihre Arme in den Himmel hinein. „Dann ist er zu gebrauchen. Von mir aus soll er sich eine Freundin suchen. Vielleicht hat er schon eine.“ Sie hielt einen Plastikchip aus einem digitalen Fotoapparat zwischen Daumen und Zeigefinger gegen das Licht. „Die Kopie ist brillant.“
„Von wem hast du das?“
„Von einem meiner Informanten. Besser gesagt von einer Informantin.“
H. B. nickte seiner Nichte anerkennend zu.
„Was wirst du tun? Ich denke, er liebt dich?“
„Das ist das Problem.“
„Wenn wir ihn, na, sagen wir, als nicht geeignet einstufen müssen?“
„Dann gilt nur noch die ultima diiudicatio.“
H. B. lächelte. Er konnte sich auf seine Nichte verlassen. Gerade weil sie die letzte Aussage in Latein getroffen hatte, war ihm ihre Ernsthaftigkeit der Entscheidung bewusst geworden.
„Manchmal frage ich mich“, überkam sie jetzt doch ein leiser Zweifel, „was, wenn er uns Schwierigkeiten macht?“
„Er wird keine machen.“ Apodiktisch setzte der immer siegende Politiker seine Statements in den Raum. „Anita, es kann nichts passieren. Sei ganz sicher.“
Bei ihrem interessanten Gespräch hatten sie nicht bemerkt, wie die Nacht über Berlin hereingebrochen war. Als Marga zu ihnen trat, um sie zu einem Stück Kuchen einzuladen, begaben sie sich zunächst auf die Terrasse, um sich den klaren Nachthimmel anzuschauen. Die Neumondphase erlaubte ihnen einen ungetrübten Blick in den Himmel. Objekte, wie kleine Flugzeuge, eher noch schneller, bewegten sich leuchtend über
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