Der Komet
herum; folgerichtig kamen sie im Fernen Osten an. Bald fanden sie sich über einem Zipfel des indischen Subkontinents wieder. Weit, weit unter ihnen trugen dort die Briten die Bürde des weißen Mannes.
Hinweis
Sie sorgten für demokratische Wahlen und achteten darauf, dass das indische Kastensystem keinen allzu schweren Schaden anrichtete: dass also auch der Tschandala – der Unberührbare – vor Gericht sein Recht bekam. Sie verhinderten, dass Frauen auf Scheiterhaufen verbrannt wurden. Die britischen Kolonialbehörden schufen Ausgleich zwischen Heiden und Rechtgläubigen; sie hielten ihre schützende Hand über Moscheen wie Hindutempel und die Heiligtümerder Sikhs. Wenn es doch einmal zu Gewaltausbrüchen kam – wenn etwa ein Mob von fanatischen Hindus einen Pogrom gegen Muslime verübte –, dann machten die britischen Sahibs kurzen Prozess und knüpften die Rädelsführer auf.
In letzter Zeit war in Europa allerdings eine Bewegung gewachsen, die ein Ende der Kolonialherrschaft forderte (aller Kolonialherrschaft, nicht nur der britischen). Das Argument zuungunsten des Kolonialismus lautete, kurz gesagt, dass er sich nicht rechnete; die Investition in die Infrastruktur der kolonisierten Länder warf leider keine Rendite ab. Volkswirtschaftlich hatten die Gegner des Kolonialismus ohne Zweifel auf Heller und Pfennig recht. Aber gab es denn nicht auch moralische Erwägungen?, dachte Dudu Gottlieb trotzig, während ihm Gustav Mahler mit seinen süßen Bitterkeiten in den Ohren lag. Hatten die Europäer nicht die Pflicht, den Menschen in den Entwicklungsländern zu helfen? Schuldeten sie den Negern, Indern und Chinesen nicht wenigstens, dass sie ihnen die Güter der Kultur nahebrachten?
Gegner des Kolonialismus antworteten darauf meistens mit einer scheinheiligen Aufzählung sämtlicher Verbrechen, die Europäer einst an den primitiven Völkern begangen hatten. Aber folgte denn nicht gerade aus den Sünden der Vergangenheit, dass man jetzt eine Verantwortung trug? Durfte man die Entwicklungsländer aus kalten wirtschaftlichen Gründen ab- und zurückstoßen: Durfte man diese armen Menschen sich selbst überlassen? Mit einem Ruck fiel Dudu Gottlieb ein, wie blödsinnig diese ganze Diskussion mittlerweile geworden war – Gegner wie Befürworter eines moralischen Kolonialismus würden in wenigen Monaten nicht mehr da sein, sie würden beide namenlos krepieren. Und auch das mächtige britische Weltreich würde in weniger als einem Jahr zu Staub zerfallen.
Die Donaumonarchie blieb von diesem Streit ohnehin unberührt: Sie unterhielt bekanntlich keine Kolonien.
Hinweis
Die Monarchie brauchte auch keine. Ihre geografische Ausdehnung – der die überwältigende Vielfalt ihrer Nationalitäten entsprach – war ohnehin gewaltig genug. In jedem Schullesebuch fand sich das Dichterwort über dieses große, vielgestaltige Reich, das die geografische Mitte des Erdteils bildete. Auch Dudu hatte es einst auswendig lernen müssen: »In seinem Westen berührt dies jahrhundertealte Staatsgebilde die Gewässer des Bodensees, gegen Nordosten und gegen den Aufgang zu grenzen seine Gebirge, seine Steppen und Ackerland an jene Gebiete Europas, welche die Vorlande Europas bilden, während der Süden des Reiches über Alpen und Karst hinabreicht, einerseits bis zu den Lorbeer und Ölbaum spiegelnden Buchten des Gardasees und andererseits bis an die blauen Fluten des Adriatischen Meeres.«
Dina in Raab, etwas mehr als eine Fahrstunde von Budapest entfernt. Mimi und ihr Mann und die drei Kinder in Klausenburg. Judith in Brünn, die sich gerade einen Verlobten angelacht hatte.
Vor dem inneren Auge von Dudu Gottlieb stiegen die Bahnhöfe in den kleinen Provinzorten auf, wie sie über ganz Österreich-Ungarn verstreut lagen, gelb, winzig, beschützt von dem kristallenen Glasdach des Perrons und überwacht von dem schmalen Doppeladler auf gelbem Hintergrund. Etwas Heimatliches ging von diesen Bahnstationen aus. Überall fand man die gleichen Elektromobile aus dem Hause Steyr-Daimler-Puch; überall die gleichen Almdudler-Reklamen; überall die gleichen Bahnhofsrestaurants, die gleichen Cafés mit den gleichen Palmen, Büffett, und zur Dicklichkeit neigenden Kassiererinnen. Wunderbar? Vielleicht war es übertrieben, wenn man dieses Reich geradezu »wunderbar« nannte, abergut bewohnen konnte man es allemal: ein Land, das aus Regeln, Herkunft und ein bisschen Fortschritt gemacht war, ein Reich, dessen Wesen nicht das Zentrum war, sondern die
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