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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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Blut und Eisen. Kluge diplomatische Hochzeiten quer durch Europa. Feiger Schwachsinn. Erbärmliche Gartenzwerge. Und keiner von ihnen erbärmlicher als Franz II ., dachte Malek, während er seine Schritte langsam zum Rand des Stadtparks lenkte. Jedes Schulkind kannte die Tatsachen: Frühsommer 1914, Truppeninspektion in Sarajewo. Die Wagenkolonne fuhr von der Westgrenze der Stadt ins Zentrum. Der Attentäter wartete schon. Eine Bombe kam geflogen. Franz II . hob den Arm, die Bombe prallte ab, rollte über das zurückgelegte Verdeck nach hinten und explodierte auf der Straße. Mehrere Verletzte. Und dann hatte Franz II . (damals noch Erzherzog Franz Ferdinand) die gesamte Wagenkolonne wenden lassen – mit dem längst historisch gewordenen Ausspruch: »I bin doch ned deppat, i fohr wieder z’haus.« (Für Reichsdeutsche: Ich bin doch nicht bescheuert, ich fahre wieder heim.) Zwei Jahre später: Thronbesteigung.
Hinweis
    Wirklich zum Kotzen, dachte André Malek. Keine Spur nobler Todesverachtung.
    Mittlerweile war er in der Johannesgasse angekommen; außer ihm sah man keinen Menschen auf dem Trottoir. Die Meteorologen meldeten für Wien folgende Witterung: vier Grad minus, keine Niederschläge, geringe Luftfeuchtigkeit; vollkommene Windstille. Trotzdem fuhr mit einem Mal eine mörderische Bö durch die Häuserreihe. Just in diesem Moment spazierte André Malek (einen anderen Namen für diesen Menschen wissen wir ja nicht) unter einer Fensterbank vorbei. Auf ihr stand ein Blumentopf: rot gebrannter, leicht verfärbter Ton, an der Seite ein haarfein-gezackter Riss. Der Topf war mit Blumenerde bester Qualität gefüllt, in der wärmeren Jahreszeit wurdenGeranien darin gezogen. Die Fensterbank, auf den das Tongefäß stand, befand sich hoch oben im fünften Stock. Jene Bö, die so plötzlich durch die Johannesgasse gefegt war, ließ Malek vor Kälte schaudern: Er raffte den Mantel enger um seinen Leib und zog den empfindlichen Hals ein; diese Mühe hätte er sich sparen können. Denn der Windstoß führte genug kinetische Energie mit sich, dass er den Topf nun wie eine unsichtbare Hand über den Rand schob. Der Blumentopf kippte und fiel mit einer Beschleunigung von g = 9,807 Metern pro Quadratsekunde in die Tiefe, geradewegs dem Erdmittelpunkt entgegen; er konnte nicht anders, so war es ihm seit Anbeginn der Schöpfung bestimmt. Und der Hinterkopf von »André Malek« befand sich just in seiner Flugbahn; auch der Hinterkopf konnte nicht anders, denn Malek musste ja zu seinem Seminar. Das mit Erde gefüllte Gefäß zertrümmerte Malek den Schädel wie ein Eisenhammer.
    Dem Fernsehphilosophen blieb nicht einmal mehr Zeit, sich gehörig zu wundern. Von dunklen Blutspritzern und heller Hirnmasse im schmutzigen Schnee wenden wir erschüttert den Blick. (Ja, auch um dieses Gehirn ist es schade.) Der Mann, den sie Malek nannten, stürzte mit weit ausgebreiteten Armen zu Boden – er war tot, noch ehe seine Stirn hart das Pflaster küsste.

Epilog
Austria Erit In Orbe Ultima
    Am Morgen des Weltuntergangs lag Wien wie ausgestorben da. Kein einziges Elektromobil surrte über die Straßen, die öffentlichen Verkehrsmittel hatten schon am Vorabend den Betrieb eingestellt. Am Ringstraßenkorso, wo sonst die Massen von der Sirk-Ecke zum Schwarzenbergplatz und retour promenierten, wo alte Freunde sich trafen und die besseren Huren nach Freiern Ausschau hielten, war keine Menschenseele zu erblicken. Über die Bühne der Hofoper hatte sich zum letzten Mal der rote Samtvorhang herabgesenkt. An der Börse herrschte eine Baisse, die eine immerwährende war. Im Reichsrat, wo einst die Abgeordneten in allen Zungen Babels durcheinandergeredet hatten, hörte man nun kein Sterbenswort mehr. Die Redaktion der Neuen Freien Presse hatte sich in der Frühausgabe – eine Spätausgabe würde es leider nicht mehr geben – mit der gebührenden Ergriffenheit von ihrer Leserschaft verabschiedet. An der Hofburg wehte die Flagge mit dem Habsburgerwappen auf halbmast. Der Kaiser hielt eine ultimative Fernsehansprache (übrigens in Hemdsärmeln); seine letzten öffentlich genuschelten Sätze lauteten (wie nicht anders zu erwarten): »Gott sei unseren Seelen gnädig, Gott schütze Österreich-Ungarn.« Der Wind riss das Herbstlaub von den Bäumen.
    Eine vergleichbare Totenstille wie über Wien hatte sich auch über die anderen Großstädten der Monarchie gebreitet: kein Ton also aus Budapest und Prag, Krakau und Lemberg, Laibach und Triest. Und kein Ton

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