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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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bloß für einen Moment, für einen kleinen formlosen Schlenker nur – ihren Kurs um die Sonne ändern konnte. Denn was war ein Komet im Prinzip anderes als ein kosmischer Eisberg?
    Der Mondflieger bereitete sich auf seinen tollsten Trick vor: Er klappte seine Tragflächen nach oben, um in die Erdatmosphäre einzutauchen – mit dieser Technik verringerte das Raumschiff seine Reibungsfläche, damit seine Aluminiumhülle beim Landeanflug nicht wegschmolz wie ein Stück Butter, das man in eine zischend heiße Pfanne wirft. Dudu Gottlieb war im letzten Augenblick aus dem künstlichen Schlaf aufgewacht, in den die Flugassistentinnen ihn gleich nach dem Abheben von der Mondstadt versetzt hatten; man sah dem k. u. k. Hofastronomen nicht an, dass er seit Wochen – nein, seit Monaten – aus zwei Koffern gelebt hatte. Sein schwarz gestreifter Anzug war immer noch ohne Knitterfalten, seine rote Seidenkrawatte saß ihm fest unter dem Adamsapfel. Mochten andere Naturwissenschaftler schlampig herumlaufen, Dudu legte Wert auf sein Äußeres: In seinem Inneren, so fand er, sah es schlampig genug aus.
    Er gehörte zu den Letzten, die vom Mond zur Erdezurückkehrten. Selene Schneider – um ein Beispiel zu wählen, das Dudu besonders am Herzen lag – war lange vor ihm abgereist, sie wollte ein letztes Weihnachten mit ihrer Familie in Oldenburg verbringen. (Und hatte es zwischen ihm und ihr denn jemals mehr gegeben als sehnsuchtsvolle Blicke, wortlose Dialoge über das, was möglich gewesen wäre? Nein, mehr war da nicht gewesen. Schmachtende Nachtschweißträume, aber keine Taten. Denn Dudu Gottlieb war vielleicht kein guter, aber ein treuer Ehemann.) Auch Siegfried Katz hatte längst das Weite gesucht – freilich nicht wegen Weihnachten, sondern wegen der jüdischen Feiertage. (Der Atheismus von Herrn Katz aus Hamburg hatte sich immer weniger triumphal ausgenommen, je deutlicher der Unstern mit seinem glitzernden Schweif in ihrem optischen Teleskop zu erkennen gewesen war: je größer und bedrohlicher, mithin​ wirklicher der Komet wurde. Kurz vor seiner Abreise hatte der deutsche Astronom sich von Dudu sogar zeigen lassen, wie man Tefillin – die rituellen Gebetsriemen – anlegt.) Nur ein paar Dummköpfe versuchten, auf dem Mond auszuharren oder jetzt noch in die Mondstadt zu reisen, um die Katastrophe dort oben quasi auszusitzen. Denn auf dem Mond zögerte man das Unvermeidliche ja nur hinaus, man verlängerte die Agonie. Gleich nach dem Aufprall des Kometen würden die Raumschiffe ausbleiben, die Nahrungsmittel in die Mondkolonie brachten; die Überlebenden würden ganz allmählich krepieren, sie würden die Toten beneiden, die das Gröbste (das Sterben) schon hinter sich hatten. Übrigens ist der Mensch zumindest in dieser Hinsicht wie ein Tier – er verkriecht sich zum Sterben nach Hause. Und ein anderes Zuhause als die Erde (diese blau-weiß-braune Kugel voller wimmelnd-chaotischem Leben, die in der Himmelnachtschwärze langsam um sich selber rotiert) haben wir ja nicht.
    Ich bin Ptolemäer, sagte sich der k. u. k. Hofastronom klammheimlich, während der Mondflieger in die äußersten, noch zart wabernden Ausläufer der Atmosphäre eintauchte. Ich glaube, dass unsere kleine Menschenwelt im Zentrum des Universums liegt. Was, bitte, gehen mich die anderen Sterne an? Die gute alte Erdenschwere zerrte an seinen Gliedern, die so viel Gravitation nicht mehr gewöhnt waren. Es war anstrengend.
    Aus dem Bordfenster sah Dudu jetzt, da der Mondflieger um die eigene Achse gerollt war und seine Flügel hochgeklappt hatte, nur noch fade, finstere Endlosigkeit; aber der Bildschirm vor ihm zeigte, wo sie sich gerade befanden: direkt über Lemberg. Dort drunten rollten – wie seit hundert Jahren schon – die Straßenbahnen über das Kopfsteinpflaster. Die Namen der Straßen waren in vier Sprachen ausgeschildert: auf Deutsch, im Ukrainischen der Ruthenen, auf Polnisch und in hebräischer Quadratschrift, also im verachtet-geliebten »Jargon« – dem Jiddischen seiner Vorfahren. (Ein Drittel der Einwohner von Lemberg waren Juden.) Dudu Gottlieb sah die im habsburgischen Ockergelb gehaltenen Fassaden der Bürgerhäuser vor sich: hier der Ferdinandplatz, weiter hinten die St. Annenstraße und drüben der Krakauer Platz. Breite Boulevards, enge Gassen, verwunschene Höfe. Im Stadtpark von Lemberg stand groß und gewaltig das Monument zu Ehren von Erzherzog Wilhelm Franz – eine kubistische Bronzeskulptur, die Fritz Wotruba verbrochen

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