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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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Peripherie. Ein Imperium, das auf dem Weg in die Zukunft jene Lahmen, Mühseligen und Beladenen nicht zurückließ, die der modernen Entwicklung hinterherhinkten. Ein schlampiges Gebilde, das aus vielen Völkern zusammengestückelt war: keine Internationale, wie die Austromarxisten sie vergeblich herbeiträumten, sondern – viel praktischer – eine Hinternationale. Reaktionär, fortschrittlich und human.
    Niemand würde übrig bleiben, um Kaddisch zu sagen.
    Dudu rollte ein Gedanke im Schädel herum, über den er sich ob seiner Plumpheit beinahe schämte. Jener Gedanke entbehrte jeglicher Subtilität; ihm fehlten Schliff und Brillanz; von jedem gebildeten Publikum wäre man ausgelacht worden, hätte man sich getraut, eine solche Banalität laut auszusprechen. Nur ein einziges armseliges Argument sprach für Dudus Gedanken: dass er zufällig richtig war. Es ist schade drum, dachte Dudu Gottlieb. Es ist schade drum. Und er haderte mit seinem Gott.
    Der Mondflieger war nun – nach vielen flachen Hüpfern und einer beinahe vollendeten Weltumrundung – so tief in jenen Ozean aus Luft eingetaucht, der unseren Planeten umhüllt, dass er sich in ein normales Flugzeug verwandeln konnte. Die Tragflächen wurden also heruntergeklappt, und sowie der Mondflieger in eine stabile Lage gebracht war, zündete der Flugkapitän die Düsen; man nahm nun energisch Kurs in Richtung Wien auf. Zwei Stunden würde es noch bis zur Landung dauern, meldete die Stimme einer Mondflugassistentin, dann knackte es im Kopfhörer; Dudu lauschte weiter dem »Lied von der Erde«.
    Eva und Susi (nein, auf Wunsch einer einzelnen Dame musste er sie jetzt ganz erwachsen »Susanne« nennen) würden am Flughafen in Schwechat auf ihn warten. Beide waren gewachsen, er hatte in der Zwischenzeit gleich zwei Kindergeburtstage verpasst. Barbara würde ihm um den Hals fallen und ihn vor allen Leuten – sie kannte da keine Scham – mitten auf den Mund küssen. Barbara mit den Lächelfalten um ihre Augen (die hellen Augen von Selene waren gewiss nicht schöner gewesen); Barbara mit den Grübchen in den Wangen; Barbara mit den geschickten, klugen, zärtlichen Händen. Barbara, die ihn auch dann ertrug, wenn er unleidlich war. Barbara, die ihn manchmal aus- und manchmal anlachte. Barbara: seine Frau. Dudu Gottlieb dachte an den Traubaldachin, unter dem er vor Jahren mit ihr gestanden, an das Glas, das er einst unter der Ferse zermalmt hatte. Er erinnerte sich an die Hochzeitsnacht und an viele Nächte danach: »Siehe, mit diesem Ring hier bist du mir angetraut nach dem Gesetze Mosis und Israels.« Und mit einem Mal wusste Dudu Gottlieb, was er zu tun hatte, obwohl es offenkundig verrückt war. 253 Tage – es würde knapp werden, aber vielleicht war es gerade genug Zeit. Genug, um Gott – dem riboine schel oilom – diesen Fehdehandschuh, diese unverschämt-demütige Bitte um Rettung der Welt vor die Füße zu schleudern. Ja, 253 Tage reichten vielleicht aus. Wenn er ein bisschen Glück hatte. Wenn er noch nicht zu alt war. Dudu, sagte er zu sich selber, du bist nicht gescheit, du bist narrisch, spinnert, total meschugge. Aber er wusste sicher und klar, was er tun musste; so ein kleiner Weltuntergang konzentrierte den Geist doch ungemein. Ein jungenhaftes Grinsen ließ Dudus bleiches bärtiges Gesicht beinahe attraktiv aussehen.
    Zur selben Zeit flanierte der Mann, den wir als André Malek kennengelernt haben, ein paar Hundert Kilometerweit entfernt durch den Wiener Stadtpark. Er war dick in einen Mantel vermummt und hatte seine Stirn in ein Wollband gehüllt, es war schneidend kalt. Idioten, dachte Malek, alles Idioten. Außer mir. Die alten Lateiner hatten eben recht: mundus vult decipi. Die Welt will, dass man ihr frech ins Gesicht lügt. Je frecher und größer die Lüge, desto eher wird sie geglaubt. Alle fielen sie jetzt auf den Schmäh mit dem Kometen herein. Und kein Mensch stellte die nächstliegende Frage: cui bono, wem nützt es? Dieses verrottete Habsburgerreich. Die Elite war sich doch für nichts zu schade. Sie setzte das Gerücht vom Untergang in die Welt und zementierte ihre Herrschaft damit für die nächsten tausend Jahre. Lächerlich. Im Grunde lächerlich.
    War es eine Verschwörung? Nein, denn der Betrug fand ja in aller Offenheit statt. Malek dachte bitter: Alles Simulation. Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht. Er kam an dem Bassin vorbei, in dem die Kinder im Sommer ihre ferngelenkten Segelschiffe zu Wasser ließen; jetzt war das Bassin

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