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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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hatte. In Lemberg war Erzherzog Wilhelm vor allem als »Wassyl Wyschiwanni« bekannt, oft wurde er aber auch liebevoll »der rote Prinz« genannt
Hinweis
, seiner sozialdemokratischen Sympathien wegen. Der rote Prinz hatte in Wien fleißig antichambriert, auch ein wenig am Hof intrigiert, bis den Ruthenen – mit denen der Erzherzog sich bis in die letzte Faser seines edlen Herzens identifizierte – endlichhuldvoll eine Heimstatt und kulturelle Autonomie, kurz: ein eigenes Kronland gewährt wurde (nach dem »Anschluss« von 1938 und der »Heimholung« von 1941). Oft war Dudu mit seinen Eltern am Schabbes im Stadtpark spazieren gegangen; manchmal bestiegen sie aber auch den Franz-Josephs-Hügel und schauten auf die Kirchtürme und Paläste der schönen alten Stadt hinunter.
    Dort! Der Kuppelbau des Reformtempels (in den seine Familie selbstverständlich nie gegangen war, die Gottliebs beteten in der orthodoxen Goldene-Rosen-Synagoge). Dort! Das deutsche Theater, in dem Dudu zum ersten Mal mit Don Carlos gefiebert hatte. Da! Das Ruthenische Nationalinstitut: Sein Schulweg führte ihn beinahe jeden Morgen und Nachmittag an dem eindrucksvollen Gebäude vorüber. (Dudu war kein guter, sondern ein mittelmäßiger Schüler gewesen – seine Lehrer am jüdischen Lyzeum hatten ihm attestiert, er sei »begabt, aber faul«.) Da! Das nicht minder eindrucksvolle Ossolineum, ein Kulturtempel im klassizistischen Stil, in dem die Polen sich selbst feierten. (Ganz war die Rivalität zwischen Ruthenen und Polen auch nach 1941 nicht verschwunden; sie schmorte im Untergrund weiter, wie sich die Hitze in einem guten Kochtopf auch dann noch hält, wenn die elektrische Herdplatte längst ausgeschaltet wurde. Glücklicherweise lebten in Lemberg aber nicht nur Ruthenen und Polen, sondern auch Ungarn, Deutschösterreicher, Italiener und Bosniaken, sogar ein kleiner Haufen von Franzosen. Und jede Menge Juden, wie gesagt.) Am Krakauer Platz wurden Wochenmärkte abgehalten: Die Bauern aus der Umgebung boten in Holzbuden ihre Kartoffeln, allerhand Grünzeug, Wurzelgemüse, Äpfel und Birnen, halb gerupfte Gänse und Hühner feil. Pyramiden von bauchigen Gläsern voller Essiggurken. Der Geruch von frischer Minze und Thymian lag in der Luft. Als Kind war er jeden Freitagmorgen an derHand seiner Mutter dort gewesen, wenn sie vor Schabbes hektisch ihre Vorräte aufstockte – gerade noch rechtzeitig, denn pünktlich zum Sonnenuntergang musste das Essen für die Familie fertig sein.
    Dudu Gottlieb kannte diese Stadt bei Licht und im Regen, er hatte ihre gelben Bürgerhäuser im Sommer wie im eisig dunklen Winter gesehen. Seine Eltern lagen dort begraben. Er würde bis ans Ende aller Erinnerung ein Bürger von Lemberg in Ost-Galizien sein.
    Während Dudu noch diesem Gedanken nachhing, war der Mondflieger längst über die Donaumonarchie hinweggebraust; unter ihnen lag nun das Deutsche Kaiserreich. Die Deutschen (vulgo: Preußen) waren allseits unbeliebt, man warf ihnen Großmannssucht vor, auch einen eklatanten Mangel an Charme. Der Fachterminus für diese Abneigung war »Antigermanismus«. Das kommt eben davon, dachte Dudu, wenn man die führende Industrienation ist! In den Wissenschaften wie in den Ingenieurskünsten lag dieses Volk auf der ganzen Welt weit vorn im Rennen: Am »Technion« in Haifa wie am »Technologischen Institut« in Boston wurden Vorlesungen selbstverständlich in deutscher Sprache abgehalten. Aber war dieses harsche Urteil über den Nationalcharakter der »Preußen« (zu denen der Einfachheit halber auch Schwaben, Bayern, Sachsen etc. pp. gezählt wurden) nicht ein bisschen voreilig, um nicht zu sagen: ungerecht? Gewiss, es handelte sich um eine Nation von Tüftlern und Technikern, von Kaufleuten und Kommerzialräten; kaum ein Adjektiv traf tiefer ins Dunkle der deutschen Seele als das Wort »tüchtig«. Ja, diese Leute konnten – leider – schrecklich tüchtig sein und wurden dann leicht ungemütlich. Wie oft hatte er mit Jankel und Tinla in Straßburg darüber geklagt! Ein hoffärtiges, kaltes und herzloses Volk.
    Aber waren diese Deutschen denn nicht auch so, wie sie in Reiseberichten seit dem 18. Jahrhundert immer wieder geschildert wurden: ein Volk von Eigenbrötlern, hintersinnig, liebenswürdig und etwas weltfremd, mit einem kindlichen, manchmal geradewegs albernen Sinn für Humor begabt und gesegnet? (Als Beweis für diesen Humor konnte vielleicht der Umstand gelten, dass im vergangenen Jahrzehnt die Anarchisten in

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